[Der :Freischreiber-Newsletter]

vom 25.09.2014

Ich,

ja – ich! Darf man „ich“ sagen? So laut und deutlich und gleich als erstes? Natürlich. Aber darf man auch „ich“ schreiben? Nun, da gehen die Meinungen vermutlich gleich in diesem Moment auseinander, liebe Kollegen und liebe Kolleginnen! Ältere unter uns erinnern sich noch gut daran, wie es war wenn einem älteren Kollegen damals Texte zurückgaben, wo es man es wagte … Und heute? Schreiben die jungen up-to-date-Kollegen und -Kolleginnen nicht ständig und überall „ich“? Auf Facebook, auf Twitter – und auch in ihren Texten, print und online sowieso?

„Es icht. Es icht immer häufiger in den deutschen Zeitungen und Zeitschriften. Es icht ganz furchtbar“, schreibt Michael Sontheimer in der „Taz“ und macht ein großes Fass auf: „Viele Journalisten berichten weniger über interessante Personen und Ereignisse, sondern schreiben lieber über sich selbst und was sie so alles erlebt haben. Die Leserschaft der Zeitungen schrumpft, die Zahl der Kolumnisten steigt. Die Kolumnisten erzählen, was sie im Fernsehen gesehen oder im Internet gefunden haben; sie schildern, welche Erfahrungen sie mit ihrem neuen Smartphone gemacht haben, was ihnen ihre halbwüchsigen Kindern zugemutet haben oder oder oder.“

Nun hat es immer etwas von „Opa erzählt vom Krieg“ wenn ältere Herren des Journalismus über ihr Unwohlsein berichten und dabei weit ausholen und oft entsprechend beleidigt klingen. Aber Sontheimer berührt schon einen heiklen Punkt, der besonders für freie Journalisten nicht uninteressant ist: „Viele Journalisten wollen nicht nur bedeutende und außergewöhnliche Menschen rühmen, sondern auch einmal gerühmt werden. Notfalls legen sie dafür selbst Hand an. Und in einer Zeit der fortschreitenden Individualisierung, der Ich-AGs und der Selbststilisierung betrachten viele Journalisten Eitelkeit als wichtigen Teils ihres Grundkapitals.
Im harten Kampf um Jobs versuchen sie sich als Marke zu entwickeln und zu profilieren. Gleichzeitig werden Journalisten inzwischen so schlecht bezahlt – Ingenieure verdienen als Berufsanfänger mehr als drei mal so viel wie junge Journalisten –, dass die Befriedigung der Eitelkeit auch dem Kompensieren der Ausbeutung und der immer schlechteren Arbeitsbedingungen dient.
Und neben psychologischen Gründen spricht auch die Arbeitsökonomie für das Ichen. Es handelt sich um eine recherchearme oder sogar recherchefreie Variante der journalistischen Produktion. Und wer kann und will schon überprüfen, ob der Autor tatsächlich in Afghanistan einem Angriff der Taliban entkommen oder ihn an der Hotelbar halluziniert hat. Oder ob die Kolumnistin tatsächlich von einer schwäbischen Latte-Mutti im Prenzlauer Berg angeherrscht wurde oder sie diese nur aus gängigen Klischees kompiliert hat.“

Von (s)ich erzählt Ralf Heimann von der „Operation Harakiri“ gerne und schreibt dann auch herzhaft „Ich“. Diesmal hat er Post bekommen. Vom Finanzamt! Und jetzt braucht er eine dazugehörige Bescheinigung von der Künstlersozialkasse: „Seit ein paar Wochen schreiben wir uns Briefe. In der Regel läuft das so: Ich versuche mit allem, was mir so einfällt, zu belegen, dass ich mein Geld jetzt als Journalist verdienen werde. Sie schreiben zurück, dass die Belege dafür nicht ausreichen. Manchmal habe ich das Gefühl, die ganze Behörde hat so eine Art Identitätsstörung. Eigentlich will sie partout niemanden aufnehmen, aber ab und zu meldet sich dann doch die Vernunft und sagt: Aber du musst, du musst.“

Also Belege hingeschickt, nächste Runde: „Ein paar Tage später kam wieder ein Brief mit der Nachricht, dass die Belege für eine Mitgliedschaft nicht ausreichen. Ich habe ihnen ein paar Folgen aus meiner Existenzgründer-Serie geschickt, die ich für das Medium-Magazin schreibe, weil ich so naiv war zu glauben, die könnte sich ja wohl denken, dass ich mir nicht Monat für Monat irgendwelche Geschichten über mein neues Leben ausdenke und diese in einem Fachmagazin publiziere, nur um mir diese Mitgliedschaft zu ergaunern. Ist ihnen wahrscheinlich auch klar. Die Belege brauchen sie trotzdem, denn die Absicht, ab September vom Journalismus zu leben, reicht für die Mitgliedschaft natürlich nicht aus, wenn ich dann ab Oktober an der Straße stehe und Würstchen verkaufe.
So ähnlich erklärte mir das die Frau am Telefon. Nicht mit den Würstchen, aber wieder total freundlich, geduldig und kompetent. Ich sagte, ich hätte da einen Buchvertrag. Das könnte ich belegen. Sie antwortete, das sei doch schon mal was. Und vielleicht reiche das als Beleg auch aus. Ich dachte, ich hätte sie endlich geknackt. Seitdem: nichts gehört.

 

Vielleicht, dass das Geld woanders her kommt? „Wir glauben an werbefreien Qualitätsjournalismus. Finanziert durch Leser, geschrieben durch unabhängige Journalisten und veröffentlicht als wunderschöne digitale Artikel“, teilt uns die Plattform „deppr journalism“ mit, die mit „wir“ also auf ein Art kollektives Ich setzt. Und crowdfundet gerade für folgende zwei Themen: eine Reportage auf den Straßen des Senegals, ein Ausflug in die Welt der Bettelkinder; und eine Reportage von Freischreiberin Sandra Weiss, die erklären wird, warum der weltweite Kokainhandel in den Bergen Perus beginnt. Ab einem Euro kann man eines oder beide Projekte unterstützen – und sich überhaupt mit der Plattform beschäftigen und auch selbst Themen vorschlagen. Wie das Projekt entstand und was es ausmacht – hier wird man schlau: „Wem wollen wir etwas beweisen? Niemandem. Wir wollen vor allem eines: Gute Geschichten lesen – digital aufbereitet. Das bedeutet, dass Texte mit Bildern, Audio, Video und Diagrammen ineinanderfließen und zu einem faszinierenden Leseerlebnis werden. Wir wollen zeigen, wie wir uns als Leser den digitalen Journalismus des 21. Jahrhunderts vorstellen. Wollen wir die Medienbranche revolutionieren? Vielleicht.“

Dies und Das

 

Florian Treiß erzählt im Gespräch, wie man sich mit dem Besetzen von Nischen ein Profil sichern kann, wie einem Fachdienst für das mobile Internet: „Es war eine absolute Bauchentscheidung. Ich habe gesehen, dass das Thema Mobile innerhalb der Medienbranche immer größer wird – und dann festgestellt, dass es dazu noch keinen passenden Fachdienst gibt. Dann habe ich mobilbranche.de mit nur rund zwei Wochen Vorlauf gegründet.“
 

Ein Plädoyer für Open Sources hält Kritsanarat Khunkham und fordert einen „Open Journalism“: „Denn Journalismus ist heute viel mehr, als bloß Texte zu schreiben, die dann einfach nur gelesen werden. Damit dieses Mehr passieren kann, sollten Journalisten die Daten und Informationen, die hinter ihren Geschichten stecken, offen zur Verfügung stellen. Es gibt bereits gute Beispiele dafür, wie zuletzt ein Artikel der „New York Times“ über die militärische Aufrüstung der Polizei im Rahmen der Ferguson-Berichterstattung. Zusätzlich zum Text haben die Autoren all ihr Recherchematerial auf der Onlineplattform GitHub hochgeladen, wo es jedermann frei anschauen kann.“
 

Alexander Pschera sieht in einem lesenswerten Beitrag für das Magazin „Cicero“ eine neue konservative Bewegung des Anti-Digitalen am Werke, zu der er Hans Magnus Enzensberger ebenso zählt, wie den Pfeife rauchenden Günter Grass: „Die Rede ist von der Bewegung des Anti-Digitalen, die sich fast jeden Tag ganzseitig im Feuilleton der FAZ, in den Publikationen einer Miriam Meckel, eines Byung-Chul Han, eines Roland Reuß – um nur die wichtigsten Protagonisten zu nennen – nachlesen lässt. Hier entsteht eine überzogene Theorie der digitalen Verschwörung gegen die Menschheit, die die Saat des Misstrauens verbreitet und die Gesellschaft lähmt. Die Debatte um das Netz ist in eine Phase der kulturellen Endschlacht getreten, in dem es um die nackte Existenz geht. Entsprechend alarmistisch ist diese Debatte, in der sich ein neuer Konservativismus der Unterkomplexität formiert.“
 

Wie es ausschaut, wenn wiederum die „Faz“ zu einem analogen Podiumsgespräch zum Thema „20 Jahre Online-Journalismus einlädt, ist hier zu sehen. Beachten Sie bitte den futuristischen Deckenbehang, bevor nach der Ouvertüre die Herren und die eine Dame auf dem Podium gezeigt werden! Und die breite Fluchttür im Rücken!!

 

Freischreiberiges

 

Empfehlen möchten wir diesmal ein Radio-Feature von Freischreiber Caspar Dohmen: „Der entzauberte Mythos Familienunternehmen – Eine Suche nach der Kraft der verwandtschaftlichen Bande“ auf „Deutschlandradio Kultur“. Das wie folgt eingeführt wird: „Was ist dran am Ruf deutscher Familienunternehmen? Sie stellen sich gerne als tugendhaft und verlässlich dar. Der Mythos besagt, dass die Geschäfte langfristig seien. Feindliche Übernahmen und Gewinnmaximierung passen nicht dazu – sollte man meinen.“
Nachzulesen und selbstverständlich auch nachzuhören, hier.

 

Neue Blogs

 

Die einen freuen sich, dass die Welt der sozialen Medien sich komplexer und auch anarchischer agiert, die anderen wollen endlich Ordnung schaffen und setzen auf Übersicht: „Social Media Watchblog“ heißt ein neuer Blog, der das Durcheinander der sozialen Medien beobachtet und dazu ein tägliches Briefing anbietet. Und darum geht’s: „Wir leben in einer Welt voller Infobrocken und Nano-News. Hunderte von Links rutschen durch den News Feed, Tausende von Tweets versenden sich sekündlich. Wir wollen beim Social Media Watchblog Ruhe in das Chaos bringen. Die Idee ist es, die wichtigsten Links des Tages zum Thema Social Media kommentiert zu verlinken – im Blog, im Newsletter, auf Twitter und Facebook. Das war`s.

Dem heutigen Briefing entnehmen wir etwa den Hinweis auf den sehr spannenden Artikel von Tobias Schwarz, der sich wahlweise bei Publixphere wie auf carta.info findet und die Gefahr von sozialen Netzwerken für den Journalismus thematisiert: „Schon jetzt zeigt Facebook in der Chronik den Nutzern nur ausgewählte Inhalte, vor allem welche von beliebten Medien und was unseren Freunden gefällt. Doch sogar meine Freunde teilen nur Artikel, die ihnen gefallen. Das sind nicht immer die relevantesten, weshalb Artikel nicht nach ihrem Nachrichtenwert produziert werden, sondern nach ihrer Stimmung. Erst am Montag startete die von Amazon-Gründer Jeff Bezos gekaufte „Washington Post „einen neuen Newsletter für ihre Abonnenten: „The Optimist“. Der Name verrät schon, welche Stimmung all diese Artikel haben, die sich um die Themen Zufriedenheit, Kreativität und die Welt verbessernde Menschen drehen. In keinen dieser Themenbereiche würde aber ein Artikel über Angela Merkel passen, Kritik an dem Einfluss von Interessensverbänden auf die Politik, Kriegsberichterstattung oder eine kritische Bewertung der Asylpolitik. Ein auf Likes und Favs fokussierter Journalismus verliert alles, was ihn ausmacht. Und besonders demokratische Gesellschaften verlieren einen Debatten kreierenden Akteur, der systemrelevant ist.“

 

Kongresse und Treffen anderer Art

 

In München kündigt sich der „Zündfunk-Netzkongress" an und das am 10. und 11. Oktober im Münchner Volkstheater: „Das Zentrum für Politische Schönheit erklärt seine aggressiven Kunstaktionen. Autorin Zoë Beck hält E-Books für eine große Chance. Und t3n-Redaktionsleiter Luca Caracciolo fragt: Was passiert, wenn die Cloud ausfällt?.“ Außerdem wollen folgende Vortragenden die richtige Fragen stellen: „Frank Rieger vom Chaos Computer Club, Otpor!-Gründer Srdja Popovic, Philipp Ruch vom Zentrum für politische Schönheit, Zoë Beck, Philipp Köster von 11 Freunde, Dirk von Gehlen, Anne Schüßler, Deef Pirmasens und Christian Schiffer, Felix Schwenzel, Ole Reißmann und Hakan Tanriverdi. Danach Party mit Pollyester und Beißpony (?) und Zündfunk-Deejays!“
Mit dabei sind auch „Torial“, „Hostwriter“, die „Krautreporter“ und wir Freischreiber natürlich.

 

Preise

 

„Zeitungen und Zeitschriften verlieren Leser – weil die Leser blöder werden oder weil die Journalisten sie langweilen? Waren wir den Ereignissen des Jahres gewachsen, haben wir sie beschreiben können, erklären können, einordnen können? Oder haben wir nur abgebildet, was sowieso jeder sah?“ Das fragt das Reporter-Forum und schreibt aus dieses Jahr seinen Deutschen Reporterpreis aus: „ Mit dem Deutschen Reporterpreis sollen die herausragenden Reportagen, Interviews und Essays des Jahres ausgezeichnet und vorbildliche Texte zur Diskussion gestellt werden.“ Und: „Der Preis ist nicht dotiert, zukünftig wollen wir aus unseren Einnahmen lieber das ReporterLab finanzieren, mit dem neue Formen des Journalismus gefördert und präsentiert werden.“

Für folgende Kategorien kann man sich bewerben: beste politische Reportage, beste Lokalreportage, beste Reportage allgemein, bester Essay, beste Webreportage, Freistil und: bester freier Reporter. Denn: „Immer mehr Reporter arbeiten nicht mehr in Redaktionen, der wirtschaftliche Druck hat viele Zeitungen und Zeitschriften veranlasst, kostenaufwendige journalistische Formen auf Freie auszulagern. Sie tragen nun das Risiko aufwändiger Recherche und akribischer Textarbeit, viele von ihnen können sich Reportagen nicht mehr leisten. Sie wollen wir mit dem Preis für den besten freien Reporter ermuntern, weiter an Texten zu arbeiten, die ihnen wichtig sind, auch wenn sie sich vielleicht nicht mehr rechnen.“
Eingereicht werden können alle deutschsprachigen Texte und Multimedia-Beiträge, die zwischen dem 1. Oktober 2013 und dem 30. September 2014 erschienen sind.
Einsendeschluss ist Mittwoch, 1. Oktober 2014, 12 Uhr. Also via Online.

 

So. Das war's schon wieder. Jedenfalls fast. Wir haben als Rausschmeißer diesmal eine interessante Multi-Media-Geschichte anzubieten, die zugegeben sehr amerikanisch ist, aber gut zeigt, wohin der Weg auch geht: http://kennedyandoswald.com/#!/premiere-screen. Gefunden, weil von Petra Bernhardt getwittert. Die ihrerseits eine interessante Seite hat, auf der sie sich mit Fotojournalismus und Bildpolitik beschäftigt. Wenn Sie mögen, schauen Sie doch bei beiden vorbei!

In diesem Sinne
Ihre Freischreiber

FREISCHREIBER TERMINE
 

Hamburg

Der letzte Montag des Monats ist Stammtisch-Time, also diesmal der 29.9., und dann um 19 Uhr. Das Thema: Freie Kollektive statt Verlage? „Die Krise schlägt mit voller Härte zu, die Verlage, so scheint es, zerlegen sich derzeit selbst. Und was bedeutet das für uns Freie? Wir werden künftig viel stärker zusammenarbeiten müssen, in kleinen Teams, wenn nötig weltweit vernetzt, um weiterhin die schönen Geschichten erzählen zu können.“ Das ist zumindest die These von Marcus von Jordan, dem Gründer und Chefredakteur von „torial“, der unser Gast sein wird. Mit ihm diskutieren wir über neue, kollektive Arbeitsformen im Journalismus und die Möglichkeiten, die sein Netzwerk dafür bietet. Anschließend sitzen wir wie gewohnt bei Bier, Wein und Kamillentee beisammen.

Ort: das traumhafte Oberstübchen in St. Pauli-Süd, dass die Adresse St. Pauli Fischmarkt 27 hat.

Achtung: Navis führen da gern mal in die Irre, Passanten schicken einen an den falschen Ort: Das Oberstübchen liegt nicht am Fischmarkt selbst, sondern ein Stück in Richtung Hafenstraße – obendrauf auf dem Pudel Club und nebenan von Park Fiction.

Über eine kurze Anmeldung freut sich bjoern.erichsen-at-gmail.com.

 

Wien

Wir Freischreiber aus Österreich sind überzeugt: Es wird ein heißer Herbst! Den Beginn machen wir mit unserem nächsten Freien-Stammtisch, für den wir uns etwas ganz Besonderes überlegt haben: Als Gast wird uns diesmal Robert Misik besuchen und uns einiges über sein Leben als Journalist, Autor und Blogger erzählen. Wer Misiks Blog noch nicht kennt, hier zum Nachlesen: www.misik.at
Wann: Mittwoch, 1. Oktober 2014, ab 19 Uhr
Wo: Café-Vinothek, Walletschek, Sobieskiplatz 4a, 1090 Wien