Wenn aus Sex Arbeit wird
06.09.2021 14:15 Uhr Eine Audio-Installation in Leipzig setzt sich kritisch mit dem Thema Prostitution auseinander. Manche Besucher kann das zum Erröten bringen. Zu zweit betreten wir eine unbekannte Wohnung im Leipziger Zentrum. Im Flur klingelt ein Wandtelefon, wir heben ab und hören uns die Anweisungen an: Taschen ablegen, im Wohnzimmer aufs Sofa setzen und Musik anmachen.
Eine Audio-Installation in Leipzig setzt sich kritisch mit dem Thema Prostitution auseinander. Manche Besucher kann das zum Erröten bringen.
Zu zweit betreten wir eine unbekannte Wohnung im Leipziger Zentrum. Im Flur klingelt ein Wandtelefon, wir heben ab und hören uns die Anweisungen an: Taschen ablegen, im Wohnzimmer aufs Sofa setzen und Musik anmachen. Wir haben die Wahl zwischen drei Kassetten ─ Disco, Klassik, Pop ─ und entscheiden uns für letzteres. Lana Del Rey fängt an „Born to die“ zu singen: „I feel so alone on a Friday night. Can you make it feel like home, if I tell you you’re mine?“
„Next Door“ lautet der Titel der begehbaren Audio-Installation von Studio Urbanistan, die sich selbst als „Label für performative Zwischenfälle im urbanen Raum“ bezeichnen. Es geht um Sex und Arbeit: Sexarbeit. Der Begriff wird verwendet, um den selbstgewählten Beruf von der negativ konnotierten und mit einer Form von Zwang verbundenen Prostitution abzugrenzen.
Auch in der Installation werden solche Begriffe diskutiert. Lana Del Rey hört auf zu singen. Eine männliche Stimme berichtet: „Ganz am Anfang habe ich mich als ‚Hure‘ bezeichnet. Das war manchmal ein wenig hart für mein Gegenüber.“ Mittlerweile nutze er den Begriff „Sexarbeiter“, aber halte ihn für ausschließend, weil er so klingt, als würde man Prostitution nicht mitdenken.
Prostitution und Corona
Während man den Stimmen von insgesamt zehn Personen aus der Branche lauscht, hat man Zeit sich umzusehen: Die Vorhänge sind geschlossen, im Röhrenfernseher läuft Kaminfeuer. Es ist sehr warm in der Dachgeschosswohnung. „Ich halte es für unmöglich, das Bild von Sexarbeit zu zeichnen“, erzählt eine Frau. Die künstlerischen Leiterinnen haben sich deswegen für einen Fokus entschieden: die Sexarbeit next door, in angemieteten Wohnungen.
Die Sexarbeiterin Lydia berichtet im Programmheft über die Situation in Leipzig: „Es gibt hauptsächlich Wohnungsprostitution. Dort sind die Sexarbeiter:innen meistens eine Woche lang und ziehen dann weiter.“ Lydia ist auch Performerin bei der Installation, sie begleitet uns durch die Räume und wechselt dabei häufig die Outfits. Nur der dunkelrote Lippenstift und die in der gleichen Farbe lackierten Fingernägel bleiben.
Es ist der richtige Zeitpunkt für eine Installation über Sexarbeit: Seit Pandemiebeginn war sie über große Zeiträume verboten. Nun ist die Berufsausübung in Sachsen seit Juni wieder erlaubt. „Next Door“ bietet in der Vier-Zimmer-Wohnung Einblicke in einen Beruf, der häufig fälschlicherweise als „das älteste Gewerbe der Welt“ bezeichnet wird, über dessen Geschichte und Gegenwart aber wenig bekannt ist.
Dabei ist sie sehr vielseitig. Im Nationalsozialismus war jegliche Form verboten, aber Frauen wurden zur Prostitution in KZ-Bordellen und Wehrmachtsbordellen in Frankreich und Polen gezwungen. In der DDR wurde das Gewerbe insbesondere geduldet, wenn es zum Erfolg der Leipziger Messe beitrug.
Heute ist Sexarbeit ein viel diskutiertes Thema, nicht zuletzt seit der Einführung des umstrittenen Nordischen Modells, das beispielsweise in Schweden zu einem Sexkaufverbot geführt hat. In Deutschland steht vor allem das Prostituiertenschutzgesetz von 2017 immer wieder in der Kritik. Mehr darüber erfährt man im Programmheft.
Bei der Performance selbst wird eher erzählt und weniger erklärt. Es gibt Pillow Talk im wahrsten Sinne des Wortes. In einem kleinen Nebenzimmer geben Kissen mit integrierten Lautsprechern intime Einblicke in den Berufsalltag, die schüchterne Besucherinnen und Besucher sicher zum Erröten bringen. Denn es werden explizite Tipps und Tricks über Massagen, Hypnosen und Sex geteilt.
So erfährt man, dass der Rhythmus von „Das Wandern ist des Müllers Lust“ nicht nur motivierend sein kann, wenn es ums Wandern geht. Auf dem Nachttisch stehen Kerzen und ein Glas mit Kondomen. Eine Leuchte mit Trotteln verbreitet Rotlicht. Auch in diesem Zimmer gibt es einen Fernseher, darin tanzen Frauen oder halten bei einer Videokonferenz Sexspielzeuge in die Kamera.
„Am Ende des zweiten Songs sollte der BH aus sein“, erzählt eine Person, die beruflich strippt. Die Performerin Lydia nimmt das ernst. Sie tanzt an einer Stange und spricht gleichzeitig darüber, wie sie durch ihren Beruf in den Köpfen Bilder erzeugt und Fantasien erfüllt. Anders als bei einem Audiowalk, der durch die Straßen der Stadt führt, kann man der Begegnung nicht ausweichen, gleichzeitig ist die Situation durch Nacktheit und Rotlicht sehr aufgeladen.
Grausames und Großartiges
„Es gibt sehr viele Grausamkeiten in der Sexarbeit und sehr viele großartige Momente. Man muss sich alles anhören.“─ Auch dieser Satz fällt in der Audio-Installation. Viel Platz wird den Grausamkeiten allerdings nicht eingeräumt, vielleicht, weil die Einordnung schwerfällt. Wie Antje Schrupp unter dem Titel „Sexarbeit und Prostitution sind nicht dasselbe“ bei Zeit Online schreibt:
„Herauszufinden, ob es sich in einem konkreten Fall um Sexarbeit oder um Prostitution handelt, ist aber nicht immer leicht. Denn auch wenn beides im Prinzip ganz verschiedene Dinge sind, können sie in der Realität sehr ähnlich aussehen.“
Sie beschreibt eine junge Bulgarin, die in einem Bordell arbeitet. Hat sie sich freiwillig für den Job entschieden, um prekären Verhältnissen zu entkommen? Sexarbeit. Hat ihr Vater sie unter Druck gesetzt, sie müsse sich für die Familie aufopfern? Prostitution.
In den Wohnungen nebenan arbeiten laut Programmheft sehr viele Frauen und Männer aus Rumänien, Ungarn und Bulgarien. In Leipzig kommen 80 Prozent der Menschen in Sexarbeit und Prostitution aus dem Ausland. Trotzdem sind ihre Stimmen kaum Teil von „Next Door“.
Eine Frau mit einem Akzent aus dem östlichen Europa spricht lange darüber, dass sie nicht dem Klischee von Sexarbeit entspricht, weil sie keine High Heels trägt. Dabei wäre auch interessant zu erfahren, ob sie stereotypen Vorstellungen und Diskriminierungen begegnet, die sich nicht auf die fehlenden High Heels, sondern auf ihre Herkunft beziehen.
„Das Licht in der Küche geht aus. Du nimmst deine Tasche und verlässt die Wohnung“, heißt es auf der Website von Studio Urbanistan. „Die Tür lässt du einen Spalt offen…“ ─ Das darf als Einladung verstanden werden, sich mehr mit Sexarbeit zu beschäftigen; die Tür zu dem Thema nicht sofort zuzuschlagen. Denn ein allumfassendes Bild von dem Gewerbe kann man sich nicht in neunzig Minuten machen.
Hinweis: Die Termine für „Next Door“ waren im Juli 2021. Weitere Projekte von Studio Urbanistan hier.