Waldbaden: Die Natur lenkt von Beschwerden und Schmerzen ab
Der japanische Waldforscher Qing Li weist in seinen Arbeiten den Botenstoffen der Bäume eine zentrale Bedeutung zu. Er hat dafür die Wirkung von Terpenen erforscht. Terpene sind Phytonzide und dienen bei Pflanzen der Kommunikation und der Feindabwehr, etwa um schädliche Insekten abzuschrecken. "Wir atmen den Duftcocktail der Bäume ein und nehmen ihn über unsere Haut auf", sagt Li.
Der japanische Waldforscher Qing Li weist in seinen Arbeiten den Botenstoffen der Bäume eine zentrale Bedeutung zu. Er hat dafür die Wirkung von Terpenen erforscht. Terpene sind Phytonzide und dienen bei Pflanzen der Kommunikation und der Feindabwehr, etwa um schädliche Insekten abzuschrecken. „Wir atmen den Duftcocktail der Bäume ein und nehmen ihn über unsere Haut auf“, sagt Li. In einem Versuch ließ er Freiwillige in einem Hotel übernachten. Während sie schliefen, atmeten sie eine mit Terpenen angereicherte Luft ein. Am nächsten Tag untersuchten Ärzte, die wie die Probanden nicht wussten, um was es in der Studie geht, das Blut der Probanden und stellten fest: Die Zahl ihrer Killerzellen war deutlich angestiegen. Li: „Wer einen Tag im Wald verbringt, hat sieben Tage lang mehr natürliche Killerzellen im Blut.“
Hanns Hatt, renommierter Geruchs- und Geschmacksforscher an der Universität Bochum, hat da seine Zweifel. Er hat zwar in Studien nachgewiesen, „dass Düfte selbst dann wirken, wenn man sie gar nicht riechen kann. Denn der Vorgang hat streng genommen nichts mehr mit Riechen zu tun, sondern mit der Aufnahme von chemischen Molekülen.“ Aber in Studien sei es schwer, psychologische und pharmakologische Effekte auseinanderzuhalten. Hatt hält die Konzentration der Duft- und Botenstoffe der Bäume für zu gering, um einen physiologischen oder gar pharmakologischen Effekt zu erzeugen. „Die Duftmengen sind ja nur minimal. Ich müsste tagelang im Wald spazieren, damit die Menge ausreicht.“ Hatt sagt, dass es nicht die Düfte selbst sind, die uns guttun, sondern das Duftmuster. „Die meisten Menschen erinnern sich an schöne Walderlebnisse: an einen Spaziergang, als sie wahnsinnig verliebt waren. Oder ans Pilzesammeln mit der Großmutter. Die Konditionierung durch Wald ist fast immer positiv. Unsere Erfahrung ist: Im Wald ist es schön, er tut mir gut.“
Auch die Münchner Klimatologin Angela Schuh geht von konditionierten Effekten aus: „Terpene, ätherische Öle, feuchte Erde und die vermodernde Vegetation vermitteln den ganz besonderen Geruch, der von vielen Menschen mit angenehmen Kindheitserinnerungen verbunden und mit Natur assoziiert wird.“ Ist die Wirkung des Waldbadens also mit einer glücklichen Kindheit im Matsch zu erklären?
Andreas Michalsen ist Arzt für Naturheilkunde am Immanuel-Krankenhaus in Berlin. Er hat das Buch Heilen mit der Kraft der Natur geschrieben und wird gern in Talkshows eingeladen, wenn es um Naturheilkunde geht. Michalsen will am Wannsee das Waldbaden in sein Therapieprogramm integrieren. „Waldbaden ist eine Interaktion mit der Natur“, sagt er, „sie ist multifaktorell. Terpene sind nur ein Teil des großen Ganzen.“ Man könne von einer instinktiven Reaktion unseres Körpers sprechen, der signalisiere: Gib mir Natur, ich brauche sie. „Dabei geht es nicht darum, dass Patienten etwas leisten, dass sie Sport treiben, sondern sich ihrer selbst bewusst werden, sich spüren. Waldbaden hat mit Achtsamkeit zu tun.“
Das funktioniert aber auch ohne Bäume. Jeder Park, jeder Stadtgarten biete dafür die Möglichkeit. Michalsen geht es um die Alltagsnähe, also darum, die Natur ins Leben zu integrieren. Wie wichtig das ist, untersuchte eine schwedische Studie, für die 290 ältere Frauen und Männer nach ihren sommerlichen Gartenbesuchen befragt wurden. Es zeigte sich, dass die Selbsteinschätzung der eigenen Gesundheit besser ausfällt, wenn sich die Alten im Garten aufgehalten hatten. Sie fühlten sich im Garten „wie einmal weg“, die Natur lenkte sie ab – auch von ihren Beschwerden und Schmerzen.
„Naturreize wirken faszinierend“, sagt Anja Göritz, Psychologieprofessorin an der Universität Freiburg, „sie fesseln die Menschen, ziehen deren Aufmerksamkeit auf sich. Der Geist ist auf angenehme Weise beschäftigt“. „Die beiläufige, ungerichtete Aufmerksamkeit komme im Stadtleben oft zu kurz“, sagt Göritz, „in der Natur wird sie stimuliert, vor allem durch überraschende Momente, besonders schöne Blüten oder eine unerwartete Lichtung.“ Diese Form der Stimulation überfordere uns nicht, sondern werde als positiv erlebt. Sie sagt: „Natur passt einfach zu uns.“
Möglicherweise ist Shinrin-yoku ein neuer Weg zu einem alten Bekannten: der Möglichkeit, in den Wald zu gehen, ohne auf Nordic-Walking-Pfaden hindurchhecheln zu müssen. „Auf alle Fälle gibt uns das Waldbaden die Erlaubnis, endlich wieder im Wald herumtrödeln zu dürfen“, sagt Peter Wohlleben. So wie Kinder es tun.
Mitarbeit: Madeleine Londene
Hella Kemper hat das Waldbaden ausprobiert. Nahe der Elbe ist sie in einen Wald bei Hamburg eingetaucht – leicht fiel ihr das nicht: Erst wollte sie noch Mails checken, dann fragte sie sich: Ab wie vielen Bäumen beginnt denn das Bad?
Unsere Recherchequellen: Lesen Sie hier, mit welchen Experten wir gesprochen, welche Internetseiten wir besucht, welche Studien wir benutzt haben
Waldbaden
Eine Anleitung zum Waldbaden in zehn Schritten
1. Schlendern: Gehe langsam und gemütlich spazieren. Streckenverlauf, Ziel und Dauer sind nicht festgelegt.
2. Rasten: Halte inne, verausgabe dich nicht. Lege rechtzeitig Pausen ein. Lass die Seele nachkommen.
3. Wahrnehmen: Erlebe, was dich umgibt, aber ohne Leistungsdruck. Staune, genieße die Formen, Farben, Gerüche und Geräusche des Waldes. Leg dich ins Laub, sonne dich. Berühre eine Rinde, lehne dich an einen Stamm, setze dich auf einen Baumstumpf. Probiere junge Blätter, die du kennst. Entdeckst du einen Bach, schau aufs Wasser, kühle deine Füße.
4. Ausprobieren: Gehe mit offenem, wachem Blick, entdecke Bekanntes neu. Lege ein Mandala, flechte Gräser, sammle Steine, Eicheln oder Kastanien, suche dir einen schönen Spazierstock.
5. Sanfte Bewegung: Balanciere über Stämme, hüpfe über Stümpfe. Wenn du kannst, übe Yoga – der Körper bekommt so mehr Sauerstoff.
6. Achtsamkeit: Sei mit deiner Aufmerksamkeit im Moment, staune vorbehaltlos, nimm Eindrücke wertfrei wahr.
7. Augenentspannung: Schau in die Ferne: Genieße das Grün des Waldes, entlaste deine monitormüden Augen.
8. Atemübungen: Setze dich an einen schönen Platz, und beobachte deinen Atem, lass ihn kommen und gehen.
9. Meditation: Sammle dich, beruhige deinen Geist, dann findest du zur Ruhe. Anfänger lassen sich anleiten.
10. Stille: Schweige, träume und genieße das Alleinsein.
Die Psychologin Anja Göritz erklärt, warum Natur positiv wirkt
Selbstbestimmtheitsprinzip: „Being away“ – wer sich dazu entschließt, im Wald spazieren zu gehen, tut das in einem selbstbestimmten Zustand. Auch über die Dauer des Aufenthalts entscheidet man allein und ohne sich dafür zu rechtfertigen: Ich bin dann mal für eine Weile einfach weg.
Abwesenheitsprinzip: Im Wald gibt es nicht nur weniger Feinstaub, Lärm und Schadstoffe als in der Stadt, sondern auch keinen Stress und keinen Stau.
Überraschungsprinzip: Der Wald ist voller faszinierender und ungewohnter Ereignisse, die unseren Wahrnehmungs- und Gefühlsapparat angenehm stimulieren, aber nicht anstrengen oder überfordern. Natürliche Reize wie Vogelstimmen, Moosflächen, duftende Nadeln werden meist als positiv erlebt.
Kontrastprinzip: Im Wald wird der Alltag aus einer größeren Distanz erlebt. Probleme relativieren sich. Das Grün und die Stille wirken im Gegensatz zum städtischen Trubel entspannend.
Ehrfurchtsprinzip: Natur wird als schön und beeindruckend empfunden: Man nimmt sich selbst nicht mehr so wichtig („Ich bin nicht der Nabel der Welt“). Alte Bäume, mächtige Rinden, weitläufige Farnflächen, schöne Blüten machen demütig. Stadtmenschen staunen, wie Natur ohne uns funktioniert.
Ermächtigungsprinzip: Bisweilen wird man in der Natur herausgefordert – ein Bach ist zu queren, oder man erkennt in der Dämmerung den Weg nicht. Herausforderungen zu meistern ist gut fürs Selbstwertgefühl. Die Natur kitzelt etwas aus uns heraus.
via www.zeit.de