article | Elena Matera

„Viele Frauen erstatten keine Anzeige, aus Angst, dass man ihnen nicht glaubt“

Berlin - Anne ist Studentin, 26 Jahre alt und lebt in Moabit. Ihren richtigen Namen möchte sie nicht nennen. „Ich will nicht, dass man mich im Internet findet und dann das mit mir verbindet", erzählt sie im Videogespräch. Mit „das" meint sie die Vorfälle vor fünf Jahren.

Berlin – Anne ist Studentin, 26 Jahre alt und lebt in Moabit. Ihren richtigen Namen möchte sie nicht nennen. „Ich will nicht, dass man mich im Internet findet und dann das mit mir verbindet“, erzählt sie im Videogespräch. Mit „das“ meint sie die Vorfälle vor fünf Jahren. Die Berlinerin war damals 19, hatte bereits Erfahrungen bei Filmproduktionen gesammelt. Um ihre Chancen auf einen Job als Schauspielerin zu erhöhen, ließ sie sich auf einen Agenten ein. Denn diese seien in der Branche meist der Schlüssel zum Erfolg.

Doch was dann folgte, erinnert an den Metoo-Skandal um den amerikanischen Filmproduzenten Harvey Weinstein. Denn schon im ersten Gespräch begann der Agent über Annes Körper zu sprechen. „Er machte mir Komplimente, berührte mich – es war mir unangenehm. Ich wusste nicht, was ich tun sollte“, erzählt Anne. Nach einigen Wochen fasste sie Mut und sagte dem Agenten, er solle mit den anzüglichen Bemerkungen aufhören. „Er hat sich verteidigt und mir gesagt, dass ich sowieso keine Rolle als Schauspielerin finden würde. Ich bin gegangen. Das war’s dann.“ Ob sie ihn damals angezeigt habe? „Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen. Wie hätte ich das auch beweisen sollen?“, sagt sie. Die Schauspielerei hat Anne mittlerweile aufgegeben, heute studiert die Berlinerin Soziologie.

Es sind Fälle wie Annes, die Katja Dunkel und Rebecca Richter motiviert haben, ihre Kanzlei DUNKEL RICHTER mit einem Fokus auf Frauen und Menschen aus der LGBTQIA*-Szene ins Leben zu rufen. Die Gründung war vor wenigen Wochen, am 8. März, dem internationalen Frauentag. „Wir wollten nicht nur eine weitere Kanzlei in Berlin sein. Wir wollten es anders machen“, sagt Katja Dunkel, während sie sich auf ihrem Bürostuhl zurücklehnt und die Arme verschränkt. Ihr Blick ist selbstbewusst. Die beiden Berliner Anwältinnen sitzen an diesem Apriltag zu zweit in einem Co-Working-Büro in Neukölln, der Hermannplatz ist nur wenige Minuten zu Fuß entfernt. Auf dem großen Holztisch vor ihnen liegen ihre beiden Laptops. Schwarze Notizhefte und juristische Fachbücher.

Das Ziel der beiden Anwältinnen: Sie wollen Frauen und queere Menschen nicht nur sichtbarer machen und unterstützen, sie wollen ihnen vor allem einen geschützten Raum geben. „Viele Frauen und queere Menschen fühlen sich oft in anderen Kanzleien nicht von den Anwälten verstanden, nicht willkommen“, sagt Richter. „Sie trauen sich nicht oder wollen sich nicht dort beraten lassen, oft aus Angst oder Unsicherheit. Wir sehen, dass der Zugang zum Recht für einige Personengruppen erschwert ist. Dabei sollte doch Recht für alle zugänglich sein.“

Die beiden Anwältinnen spezialisieren sich in ihrer Kanzlei auf Medienrecht. „Zurzeit fällt uns stark auf, dass sich viele an uns wenden, die Beratungen zum Thema Hass im Netz und sexualisierte Gewalt benötigen“, sagt Dunkel. Viele ihrer Mandantinnen kommen aus der Filmbranche. Fälle wie Annes seien da keine Seltenheit. Sexualisierte Gewalt, zu der bereits anzügliche Blicke zählen, sei in dem Business ein großes Thema. „Solche Sachen passieren nicht nur in Hollywood bei Harvey Weinstein“, sagt Dunkel.

„Leider erstatten viele Frauen keine Anzeige gegen die Täter, aus Angst, dass man ihnen nicht glauben wird“, sagt Dunkel. Dabei sprechen die Zahlen für sich: Jede dritte Frau erfährt mindestens einmal in ihrem Leben psychische oder sexualisierte Gewalt – von anzüglichen Bemerkungen, nächtlichen Nachrichten, unangebrachten Berührungen über Stalking und Drohungen bis hin zur Vergewaltigung. Das große Problem: Wenn eine Frau einem Mann öffentlich sexualisierte Gewalt vorwirft, wird schnell auf die Unschuldsvermutung gepocht. „Man will den Täter bloß nicht falsch verdächtigen. Aber was ist mit den Frauen? Warum gibt es keine Unschuldsvermutung für sie?“, sagt Dunkel. „Da muss sich noch einiges tun.“

Eine ihrer Mandantinnen erzählte den Anwältinnen in einer Beratung von ihren Erlebnissen mit einem Produzenten, der seit Jahren in der Filmbranche sein Unwesen treibe und sexuell übergriffig geworden sei. Es soll – so der Vorwurf – bis zur Vergewaltigung bei anderen Kolleginnen gekommen sein. Sie überlege, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, um weitere Vorfälle zu verhindern.

Die Anwältinnen stehen bei solchen Fällen immer wieder vor einer Herausforderung: „Hier steht das Persönlichkeitsrecht des Täters der Meinungsäußerungsfreiheit gegenüber, und das erfordert eine genaue Abwägung, was gesagt werden darf“, sagt Dunkel. Ein schwer lösbares, aber nicht unlösbares Dilemma des Rechtssystems. Hinzu komme, dass auch noch keine Anzeigen in dem Fall des Produzenten erstattet worden seien.

Frauen werde zudem oft vorgeworfen, dass sie sich sexuelle Übergriffe ausdenken und medial ausschlachten. „Wir verstehen das nicht. Ohne massivsten Leidensdruck geht keine Frau an die Öffentlichkeit. Als Anwältinnen sind wir da parteiisch, und wir glauben in erster Linie immer den Frauen“, so Richter. Sie wollen den Frauen und queeren Menschen zeigen: Wir sind für euch da. Jeden Tag würden sie merken, wie wichtig ihre Kanzlei ist. „Wir sind selbst Frauen, ich bin in der LGBTQIA*-Szene. Wir können uns einfühlen, und die Menschen, die zu uns kommen, schätzen das sehr“, erzählt Dunkel. „Frauen wie Anne wollen wir sagen: Traut euch, wendet euch an uns oder berichtet den Vorfall Themis und anderen Organisationen.“

Während die 32-Jährige spricht, sieht sie immer wieder zu Richter hinüber, ganz so, als wollte sie fragen: Das siehst du doch genauso, oder? Richter blickt dann zurück, nickt zustimmend und ergänzt Dunkel im nächsten Satz. „Katja ist eher die Visionärin, ich bin besser in der Organisation, den Finanzen. Manchmal muss ich Katja etwas auf den Boden holen. Wir ergänzen uns gut“, sagt Richter.

Man könnte meinen, dass die beiden Frauen viele Jahre befreundet wären, dabei haben sie sich erst vor einem Jahr bei ihrer früheren Arbeit in einer Berliner Kanzlei kennengelernt. Der Entschluss, zu gründen, entwickelte sich im Laufe des vergangenen Jahres. „Wir haben schnell gemerkt, dass wir beide selbstbestimmt arbeiten und etwas verändern wollen, um Frauen und queeren Menschen einen sicheren Raum anbieten zu können“, so Richter. „Die Anwaltsbranche ist noch immer eine sehr männerdominierte Welt. Die Strukturen sind festgefahren, die Sichtweisen oft konservativ. Wir wollen diese Strukturen durchbrechen.“ Insgesamt gebe es zu wenig weibliche Führungskräfte und Gründerinnen.

Eine Gründung sei immer ein Risiko, aber sie wollten es wagen. „Einfach machen – sonst macht man es nie“, so Dunkel. Mit ihrer Gründungsidee gingen sie auch zu einem nachhaltigen Businessplanwettbewerb. Gründer können in solchen Wettbewerben ihre Ideen präsentieren. Falls sie überzeugen, erhalten sie eine Investition. Die beiden Anwältinnen erhielten bei dem Wettbewerb zwei Bewertungen von zwei unterschiedlichen Juroren. Das erste Feedback sei positiv gewesen, das zweite war hingegen niederschmetternd, erzählt Richter.

„Der Juror sagte uns, dass unser Konzept keine Zukunft habe“, so die 29-Jährige. Er begründete es damit, dass er selbst schwule und lesbische Menschen kenne, die niemals ihre Kanzlei besuchen würden, da sie „normal“ behandelt werden wollen. Dann habe er die Idee der Anwältinnen mit einer Zahnarztpraxis für übergewichtige Menschen verglichen.

„Wir waren echt schockiert. Aber die Meinung des Juroren hat uns auch gezeigt: Es gibt noch viel zu tun. Anscheinend verstehen viele nicht, dass Schutzräume für Frauen und queere Menschen fehlen.“ Ob sie dadurch in ihrem Vorhaben verunsichert waren? „Nein, eher im Gegenteil. Es hat uns bestärkt und motiviert, weiterzumachen. Und wir sehen heute: Der Bedarf ist da. Wir haben sehr viele Anfragen.“

Auch wenn die beiden Anwältinnen heute über den Vorfall lachen können, zeigt er auch ein zentrales Problem in der Gründungswelt auf. „Man ist weiblich, queer und bedient weibliche Themen und stößt damit auf Ablehnung. Die Folge: Wir haben die Finanzierung nicht erhalten. Und die hätten wir gut für den Start unserer Kanzlei gebrauchen können“, so Dunkel. „Männer finanzieren Männer – das ist leider so in der Branche.“ Auch das sei ein Problem, das sich dringend ändern müsse. Auch der Bundesverband deutscher Start-ups zeigt in einer Studie, dass Männer im Vergleich zu Frauen mehr als doppelt so oft Investitionen für ihr Gründungsvorhaben erhalten.

Auf ihrem Instagram-Kanal positionieren sich die beiden Anwältinnen zu ebensolchen Vorfällen. Auch die Diskussion um die Investition des Start-ups Pinky Gloves haben sie dort aufgegriffen. Zwei Männer haben pinke Einmal-Handschuhe zum „hygienischen“ Einführen und Entsorgen von Tampons erfunden. Die Handschuhe haben sie in der Sendung „Die Höhle der Löwen“ präsentiert – mit Erfolg. Sie erhielten eine Investition von 30.000 Euro, die mittlerweile wieder zurückgezogen wurde.

Denn im Netz brach eine Diskussion aus. Der Grund: Menstruierende Menschen brauchen die Plastikhandschuhe nicht, zudem sind sie teuer und produzieren zusätzlich Plastikmüll. Zum Vergleich: Vor zwei Jahren haben zwei Gründerinnen des Start-ups Ooia in derselben Fernsehshow Menstruationsunterwäsche vorgestellt. Sie gingen damals ohne Investment aus. Heute sind sie damit erfolgreich. „Das Beispiel Pinky Gloves zeigt, dass sich in der Gründungswelt noch einiges tun muss,“ sagt Dunkel.

Wenn die beiden Anwältinnen sprechen, fällt immer wieder das Wort „Machtstruktur“ – sei es im Zusammenhang mit der Gründungswelt, der Anwaltsbranche oder dem Film- und Theaterbusiness. Warum? „Wir müssen Machtstrukturen aufbrechen. Nur dann können wir offenere, durchlässigere Systeme schaffen“, sagt Richter. „Wir wollen mit unserer Kanzlei Frauen wie Anne helfen und auch selbst als Arbeitgeberinnen ein Vorbild sein. Wir wollen Frauen und queere Menschen fördern, sie in Führungspositionen bringen.“ Ein weiteres Ziel sei, auch Menschen zu helfen, die sich keinen Anwalt leisten können.

Schließen sie eigentlich per se Beratungen für Männer aus? „Unser Fokus liegt ganz klar auf Frauen und der queeren Community“, sagt Dunkel. „Würden wir Männer ausschließen, würden wir auch nicht gleichberechtigt arbeiten. Und das ist ja unser Ziel.“

Diese Texte sind in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.

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