Elena Matera

„Vertical farming“: Hoch hinaus gepflanzt

Minze, Koriander und verschiedene Basilikumsorten sprießen fein aufgereiht in der gut zwei Meter hohen Glasvitrine. LED-Lampen tauchen sie in violett schimmerndes Licht. Die Kräuter stecken in Plastikboxen, Wurzeln sind von außen nicht zu sehen. Die Installation wirkt unscheinbar. Doch was hier zu sehen ist, soll die Landwirtschaft in 50 Jahren revolutionieren.

Minze, Koriander und verschiedene Basilikumsorten sprießen fein aufgereiht in der gut zwei Meter hohen Glasvitrine. LED-Lampen tauchen sie in violett schimmerndes Licht. Die Kräuter stecken in Plastikboxen, Wurzeln sind von außen nicht zu sehen. Die Installation wirkt unscheinbar. Doch was hier zu sehen ist, soll die Landwirtschaft in 50 Jahren revolutionieren.

Davon ist Daniel Schubert, Wirtschaftsingenieur im Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrum in Bremen (DLR), überzeugt. Diese Anbauweise habe das Potenzial, eine der zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern: die Nahrungsmittelproduktion. In den Glaskästen lässt sich das ganze Jahr über auf mehreren Ebenen Gemüse anbauen.

Kräuter wachsen ohne Sonnenlicht, ohne Erde

Minze und Basilikum stehen nicht in einem Labor. Das futuristisch wirkende Gewächshaus befindet sich vor der Obst- und Gemüseabteilung im Supermarkt Edeka in Bremervörde. Einige Menschen eilen daran vorbei, andere bleiben kurz stehen, schauen sich die Kräuter durch die Glasscheibe an. Auf der klebt ein runder Sticker: „Infarm: Frisch aus deiner Nachbarschaft.“

Arie Taal blickt zufrieden auf die hell erleuchteten Pflanzen. Er ist Verkäufer in der Abteilung Obst und Gemüse des Supermarkts. Seit einem halben Jahr steht hier das Gewächshaus des Berliner Start-ups Infarm. Kräuter wachsen auf mehreren Etagen – ohne Sonnenlicht und ohne Erde. Die Wurzeln hängen in einer speziellen Nährlösung, auch Hydrokultur genannt. Die High-Tech-Vitrine ist verschlossen, selbst für Taal. Zweimal in der Woche kommen die Gärtner der Firma Infarm vorbei und ernten die Kräuter, die mit ganzer Wurzel in der Gemüsetheke fünf Meter weiter verkauft werden.

Dieser künstliche Gemüseanbau wird auch „vertical farming“ (vertikale Landwirtschaft) genannt. Die Pflanzen wachsen auf mehreren Ebenen – wetterunabhängig, pestizidfrei und unter kontrollierten Bedingungen. Licht, Temperatur, Wasser- und Nährstoffzufuhr werden optimal aufeinander abgestimmt.

Das Start-up Infarm, 2013 in Berlin gegründet, baut die smarten vertikalen Farmen in verschiedenen Größen. Die Firma überwacht und steuert die Pflanzen digital aus ihrer Zentrale. Bis zu 7500 Nutzpflanzen können laut Infarm in einem zwei Quadratmeter großen Hochregal jährlich heranwachsen.

Mehr als tausend Farmen europaweit

Mittlerweile stehen mehr als 1000 der kleinen Indoor-Farmen europaweit in Supermärkten und Restaurants. Auch in den USA sind die ersten Infarms angekommen. In Deutschland kooperiert das Start-up bisher mit den Supermarktketten Metro und Edeka. Die High-Tech-Farmen kommen gut an – auch in Bremervörde. „Unsere Kunden waren am Anfang zögerlich, mittlerweile sind sehr viele von ihnen überzeugt“, sagt Taal. „Ich glaube fest daran, dass diese Form des Gemüseanbaus Zukunftspotenzial hat.“

Infarm möchte weiter expandieren und lockt mit einer klaren Botschaft, die den Zeitgeist trifft: Nachhaltigkeit. Die vertikalen Farmen verbrauchen nach Angaben des Start-ups bis zu 90 Prozent weniger Wasser und 70 Prozent weniger Dünger im Vergleich zur traditionellen Landwirtschaft. Die Bewässerung der Pflanzen findet in einem geschlossenen Kreislauf statt, in dem das Wasser zirkuliert. Außerdem fallen Transportwege und Verpackungen weg.

Wirtschaftsingenieur Schubert vom DLR Bremen denkt noch größer. Sehr viel größer. Und er geht davon aus, dass es auch nötig ist, dass sich die Landwirtschaft durch vertikales Farmen sowie künstliches Fleisch verändert: „Es führt eigentlich kein Weg daran vorbei“, sagt der 44-Jährige. Der Grund für seine Annahme: Hochrechnungen der Vereinten Nationen zufolge wird die Weltbevölkerung bis 2050 auf etwa 9,7 Milliarden Menschen anwachsen, von denen mehr als sieben Milliarden in Ballungszentren leben werden. Und die müssen versorgt werden.

Doch die nutzbare Fläche für die Landwirtschaft wird immer kleiner. Durch Monokulturen, Einsatz von Chemikalien, Überweidung, Versiegelung geht fruchtbarer Boden verloren. Dürreperioden führen zu unterdurchschnittlichen Ernteerträgen. Die traditionelle Landwirtschaft ist außerdem für 30 Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich.

In die Höhe statt in die Fläche gehen

Laut Schubert liegt es daher nahe, in die Höhe statt in die Fläche zu gehen – mittels vertikaler Farmen. Seit 2011 forscht der Wirtschaftsingenieur bereits mit seinem Team an dieser Form der Landwirtschaft. Ein wichtiger Ort ihrer Forschung ist das Eden-Labor im Keller des DLR-Zentrums. Das kleine Labor ist durch die Tiefgarage des Zentrums zu erreichen. Leere Regale sind dort noch zu sehen, nur in einer Ecke des Raumes wachsen Pflanzen: Brombeeren und Himbeeren. In den nächsten Wochen soll auch in den restlichen Regalen Gemüse und Obst künstlich angebaut werden.

Wie bei der Glasvitrine im Supermarkt in Bremervörde werden auch die Himbeere und die Brombeere im Eden-Labor mit violettem LED-Licht beleuchtet. Die Wurzeln der Pflanzen wachsen allerdings nicht im Wasser, sondern hängen in der Luft. Alle fünf Minuten werden sie gut 30 Sekunden mit einem Nährstoffregen angesprüht.

Gemüseanbau auf Weltraummissionen

Die Pflanzen werden im Labor angebaut und analysiert. Schubert arbeitet mit seinem Team an mehreren Projekten zum Thema vertikale Landwirtschaft. Das bekannteste ist das Eden-ISS-Projekt, das Schubert leitet. Ziel ist der künstliche Gemüseanbau auf Weltraummissionen. Statt der üblichen Flüssignahrung sollen die Weltraumfahrer Gemüse auf dem Mond oder dem Mars anbauen, ernten und essen können. Seit Januar 2018 testen die Forscher des DLR und des Alfred-Wegener-Instituts dafür in der Neumayer-Antarktisstation diese Form der Landwirtschaft. Denn die Konditionen in der Antarktis sollen den Bedingungen auf dem Mars oder Mond ähneln. „Wir haben bereits über 300 Kilogramm Frischwaren in unserer Station produziert“, sagt Schubert, „Salat, Tomaten, Gurken oder Paprika.“ Das Ziel der Mission ist es, ein Weltraumgewächshaus bauen zu können.

Doch nicht nur der Weltraum steht für die Forscher im Fokus. Das Team um Schubert arbeitet auch an Projekten, die auf der Erde angewendet werden können. Eines dieser Projekte ist gerade gestartet. Die Idee: eine faltbare vertikale Farm. Diese soll in erster Linie in großen Flüchtlingszentren aufgestellt werden. „Man könnte sie auch in Krisenregionen nutzen oder in der Wüste“, sagt Schubert. Mithilfe von Solarenergie kann das Gemüse günstig angebaut werden, LED-Technologie ist in sonnenreichen Regionen nicht nötig. Tausende Menschen könnten so ernährt werden. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen unterstützt das Projekt.

Die Wissenschaftler des DLR beschäftigen sich auch mit der Frage, wie man die Technologie der vertikalen Farm in die Stadt integrieren kann – etwa in Bremen. Welches Potenzial haben vertikale Farmen? Wo könnten sie in der Stadt stehen? Ist diese Form der Landwirtschaft wirklich so nachhaltig, wie es etwa das Start-up Infarm verspricht?

Viel zu hohe Energiekosten

„In Deutschland derzeit noch nicht“, sagt Schubert. Die Energiekosten seien noch viel zu hoch. Schuld ist das teure LED-Licht. Doch diese Art der Beleuchtung werde immer effizienter. „Wenn der Strom aus fossilen Brennstoffen kommt, ist die vertikale Landwirtschaft generell idiotisch und moralisch verwerflich“, sagt der Wissenschaftler. Man müsse regenerativen Strom verwenden, aus Wasser -und Windkraft oder Solarzellen. Derzeit sei vertikale Landwirtschaft gerade in Wüstenregionen günstig und nachhaltig. Ob die Hochregale von Infarm in Supermärkten und Restaurants mit Ökostrom betrieben werden? „Wohl kaum“, sagt Schubert. Das mache das Ganze nicht so ökologisch, wie es die Gründer aus Berlin versprechen.

Trotz des Problems des hohen Stromverbrauchs ist Schubert überzeugt vom Potenzial der vertikalen Farmen. „Wir können dem Salat 24 Stunden Licht geben, wenn wir möchten“, sagt er. Dann sei er doppelt so schnell fertig wie auf dem Feld. Außerdem könne man das ganze Jahr über anpflanzen – unabhängig von den Klimabedingungen. Städte könnten dann irgendwann völlig autark von vertikaler Landwirtschaft leben. Lernen könne man dabei gut von der Forschung des ISS-Projekts. Bei einer Weltraummission gebe es einen geschlossenen Kreislauf. „Dieses Prinzip wollen wir auf die Stadt übertragen“, sagt Schubert. „Wir überlegen momentan, wie das funktionieren könnte.“

Hightechfarmen in Bremen

Schubert hat schon Vorstellungen, wie es in Bremen in 50 Jahren aussehen könnte: Große High-Tech-Farmen stehen in den Vororten der Stadt, auch mehrstöckige Farmen über Supermärkten seien möglich. Alle Gemüse- und Obstsorten könnten dort angebaut werden. Die für die Landwirtschaft genutzten Ackerflächen würden nicht mehr gebraucht. „Wir könnten daraus wieder Naturwiesen machen“, sagt Schubert, „das wäre gut für den Erhalt der Biodiversität.“

Der Wirtschaftsingenieur ist sich sicher: Die klassische Landwirtschaft wie heute wird es dann nicht mehr geben. Dasselbe gelte für die Viehzucht. Doch um die Technologien in Zukunft einsetzen zu können, müssen Wissenschaftler heute anfangen zu forschen. Andere Länder sind bereits weit, etwa China oder die USA. Gerade Japan gilt als ein Vorreiter auf diesem Feld: Dort gibt es schon seit Jahren große vertikale Farmen.

Förderung hinkt in Deutschland

In Deutschland hinke die Förderung, sagt Schubert und zeigt auf das Eden-Labor, auf die leeren Regale, die Himbeeren, die Brombeeren. Dass sich eine Stadt von künstlich angebautem Gemüse in mehreren Jahrzehnten autark ernähren kann, scheint bei diesem Anblick noch in weiter Ferne zu liegen. Der Wirtschaftsingenieur wünscht sich eine große „Forschungsfabrik“: ein Hochhaus mit 20 Stockwerken voller vertikaler Farmen und einem integrierten Forschungsinstitut. Bremen könne in diesem Bereich viel leisten. „Das Eden-Labor ist viel zu klein, um größere Forschungen zu betreiben“, sagt Schubert. „Es ist ein Anfang.“

Zur Sache: Algen als Mineralölersatz

Heute startet die Serie „Mission Nachhaltigkeit – es geht auch anders“. In der fünfteiligen Serie werden Forschungsprojekte und Wissenschaftler vorgestellt, die sich für eine nachhaltige Zukunft in Bremen einsetzen. Im nächsten Teil der Serie besuchen wir Forscher in Bremerhaven, die Mineralöl mit Algen ersetzen wollen.

via www.weser-kurier.de