Unter den Brücken von Stockton
Wer die ehemalige Unternehmerin Kathleen O'Neill in ihrem neuen Zuhause besuchen will, fährt von San Francisco 90 Minuten ins Landesinnere - und kommt in eine andere Welt. Der Highway wird zuerst vier-, dann drei-, dann zweispurig; die grünen Hügel verfärben sich erst gelb, dann braun. Dazwischen Güllesilos, Lagerhallen und Fast-Food-Ketten.
Die Bay Area boomt, aber in San Franciscos Hinterland breitet sich Elend
aus. Ein junger Bürgermeister experimentiert nun mit einer radikalen
Idee: dem Grundeinkommen.
Wer die ehemalige Unternehmerin Kathleen O’Neill in ihrem neuen Zuhause besuchen will, fährt von San Francisco
90 Minuten ins Landesinnere – und kommt in eine andere Welt. Der
Highway wird zuerst vier-, dann drei-, dann zweispurig; die grünen Hügel
verfärben sich erst gelb, dann braun. Dazwischen Güllesilos,
Lagerhallen und Fast-Food-Ketten. Elf Abfahrten führen nach Stockton;
die Stadt liegt flach und ausgestreckt da, wie das Central Valley
selbst.
Unter einem der
Autobahnkreuze wohnt Kathleen O’Neill – es ist eine Adresse, die sie
nicht gern nennt. Hier säumen Zelte die Straße, Bretter und Decken
schützen vor Wind und neugierigen Blicken. Qualm steigt auf, eine alte
Frau kocht Wasser auf offener Flamme. Neben dem Lager steht ein
überfülltes Obdachlosenheim.
„Vor Jahren hätte ich
noch gedacht: ‚Obdachlose? Das sind doch die Drogenabhängigen, die sich
gehen lassen. Kann mir nicht passieren.'“ O’Neill sitzt auf einer Bank,
über ihr brettern Trucks mit Gemüse und Pendlern in Richtung Bay Area
und Vans voller Touristen in die Gegenrichtung, zum
Yosemite-Nationalpark. Wer hier nicht abfahren muss, fährt auch nicht
ab. O’Neill aber blieb nichts anderes übrig.
Die 49-Jährige würde
in einem Touristen-Van nicht auffallen, in einem deutschen Supermarkt
auch nicht. Hier schon. Die blonden Haare hat sie mit einer Sonnenbrille
zurückgeschoben, sie wirkt aufmerksam und unverbraucht. „Jeder Mensch ist sieben Schritte von der Obdachlosigkeit entfernt„,
sagt O’Neill – ein Satz, den man in Stockton häufig hört. „Mein
neunjähriger Sohn und ich waren lange nur eine Essensmarke vom Hunger
entfernt, eine Monatsmiete von der Obdachlosigkeit. Und trotzdem war ich
schockiert und beschämt, als wir hier im August vor der Tür standen.“
O’Neill wuchs in der Küstenstadt Santa Cruz auf, ihre Eltern waren obere
Mittelklasse, wie sie sagt. Ihr erster Mann war Konzertpianist, mit dem
zweiten leitete sie eine Spedition.
„Ich habe immer hart
gearbeitet und glaubte, das würde sich auszahlen“, sagt O’Neill. Als sie
in ihrem Job als Krankenpflegerin einem Patienten helfen wollte, zog
sie sich eine schwere Verletzung der Wirbelsäule zu. Kathleen O’Neill
verlor ihre Arbeit. Ihrem Sohn und ihr selbst blieben Lebensmittelmarken
und 535 US-Dollar Sozialhilfe pro Monat – viel zu wenig, um die Miete
in Stockton zu zahlen. Die Vermieterin kündigte ihnen, und sie landeten
hier: im größten Obdachlosenheim Nordkaliforniens, das täglich größer
wird.
„Hier kommen immer öfter
Leute wie Kathleen an“, sagt Mitarbeiterin Kimberly Maxwell. „Unsere 400
Stockbetten sind längst belegt.“ Hunderte weitere Menschen schlafen
Schulter an Schulter auf dem Fußboden der Aufenthaltsräume. Viele der Obdachlosen,
sagt Maxwell, führen morgens vom Heim aus zur Arbeit, „wo sie nicht
mehr genug verdienen, um die Mieten in Stockton zu bezahlen“.
Die Nähe zum Silicon Valley schadet
Manche
Bewohner nennen Stockton die „Far Far East Bay“ – als hofften sie, dass
Ruhm und Reichtum der San Francisco Bay Area auf die Stadt abfärben
könnten. Dabei ist es andersherum: Die Nähe zum Silicon Valley
schadet Stockton. Junge IT-Ingenieure mit Jahreseinkommen jenseits der
100.000 Dollar treiben die Mieten in der San Francisco Bay Area in die
Höhe. Familien und Nicht-Techies werden verdrängt und ziehen ins Central
Valley – zum Beispiel nach Stockton, wo sie mit ihren Pendlergehältern
eine zweite Gentrifizierungswelle auslösen. Die Mieten in Stockton
steigen jedes Jahr um zehn Prozent, so schnell wie in kaum einer anderen
Stadt der USA.
Die Einheimischen
sind schlecht darauf vorbereitet: Im Durchschnitt verdient hier jeder
23.000 Dollar pro Jahr, nicht einmal halb so viel wie ein
durchschnittlicher Einwohner von San Francisco. Jeder Sechste ist
arbeitslos, jeder Vierte lebt unterhalb der Armutsgrenze. Viele
Stocktonians, wie sie sich nennen, tragen ihre Schulden aus der
Finanzkrise noch immer mit sich herum.
„Elendster Ort der USA“
Eine Meile vom
Autobahnkreuz entfernt schwingt sich Bürgermeister Michael Tubbs in
einen Mahagonisessel. „Wir wollen nicht länger vom Erfolg abgeschnitten
sein“, sagt er. „Bei aller Liebe zu Technologie und Effizienz: Das
Silicon Valley sollte keine neuen Probleme schaffen.“ Als Tubbs noch zur
Highschool ging, kürte das Forbes-Magazin seine Heimatstadt Stockton erstmals zum „elendsten Ort der USA“.
Das war 2008. Die Immobilienblase war gerade geplatzt und viele Häuser
wurden zwangsvollstreckt; die Insolvenz der Stadt stand kurz bevor. Ein
Jahrzehnt später ist Tubbs Bürgermeister von Stockton: als erster
Afroamerikaner vor Ort und als jüngster Bürgermeister einer
US-Großstadt. Und Forbes – das Magazin mit der Elendsliste – ernennt den 27-Jährigen zu einem der 30 Hoffnungsträger unter 30 Jahren in den USA.
„Wenn mir damals
jemand gesagt hätte, dass ich zurückkommen würde – und gar als
Bürgermeister – hätte ich ihn ausgelacht“, sagt Tubbs. „Ich liebte meine
Stadt, aber ich hatte nichts gegen eine Fernbeziehung.“ Er wuchs im
Arbeiterviertel Nightingale auf; seine Mutter war noch ein Teenager, als
er klein war; sein Vater im Gefängnis.
Tubbs‘ Geschichte
erinnert die Menschen in Stockton daran, dass es den Amerikanischen
Traum noch gibt. Nicht für sie, aber für einen von ihnen, einen von
315.000. Ihm gelang, was wenige hier schaffen: Tubbs machte seinen
Master an der Elite-Universität Stanford, er absolvierte ein Praktikum
bei Google und eines im Weißen Haus unter Barack Obama.
Doch eines Tages
erhielt er in Washington D.C. einen Anruf aus der alten Heimat: Sein
Cousin war auf einer Party in Stockton getötet worden. „Als ich für die
Beerdigung zurückkam, wurde mir klar, dass es jedes Jahr noch 50 anderen
Familien in Stockton so geht wie uns.“ Seit den Achtzigerjahren werden
jedes Jahr Dutzende Menschen in Stockton ermordet,
überwiegend junge Afroamerikaner im Süden der Stadt. „Plötzlich wurde
mir klar, dass ich mein Glück nicht nur für meine eigene Karriere nutzen
sollte, sondern für etwas Größeres.“ Michael Tubbs blieb.
So ungewöhnlich wie seine
Lebensgeschichte sind auch seine Ideen. Mit privaten Fördermitteln will
Michael Tubbs ab Herbst 2018 hundert zufällig ausgewählten Familien in
Stockton ein bedingungsloses Grundeinkommen
von 500 Dollar pro Monat zahlen, drei Jahre lang – unabhängig davon, ob
sie einen Job haben oder Sozialhilfe empfangen. Sein Traum wäre es,
wenn die Auserwählten in Stockton eigene Unternehmen gründeten und
daraus ein wirtschaftlicher Aufschwung entstünde. Im Unterschied zur
Sozialhilfe in den USA wäre dieses Grundeinkommen nicht an bestimmte Restriktionen gebunden. Wer Geld dazuverdienen möchte, der darf dies unbegrenzt tun.
Das schlechte Gewissen des Silicon Valley
Unterstützung
für seine Idee bekommt der Bürgermeister aus dem Silicon Valley, das
für Stocktons Probleme mitverantwortlich ist. „Wenn hier Zwanzigjährige
Millionen verdienen, während dort Menschen sich trotz lebenslanger
Arbeit verschulden müssen, stimmt doch etwas mit unserem System nicht“,
sagt Taylor Jo Isenberg. Sie ist Geschäftsführerin des Economic Security
Project aus San Francisco, einer Initiative des Facebook-Mitbegründers
Chris Hughes. Der 34-Jährige zählt mit einem Reinvermögen von 430 Millionen US-Dollar laut Forbes zu den reichsten Unternehmern der USA.
Mit einem kleinen Teil seines Geldes sowie Spenden von anderen Mäzenen
unterstützt Hughes insgesamt 35 Grundeinkommensprojekte mit insgesamt 10
Millionen Dollar – für das Projekt in Stockton gab er eine Million.
Hughes‘ Grundgedanke:
Automatisierung und Globalisierung werden zu Massenarbeitslosigkeit
führen, Innovationen im Bereich der künstlichen Intelligenz wie
selbstfahrende Autos werden die Entwicklung noch verstärken. Ein
Grundeinkommen könnte die Folgen abdämpfen. Ob und wie es sich im
größeren Maßstab umsetzen lässt, soll unter anderem das Projekt in
Stockton zeigen.
Macht ein Grundeinkommen weise oder faul?
Aber
kann man sich langfristig auf das schlechte Gewissen der
Tech-Unternehmer verlassen – darauf, dass sie die Folgen ihrer
disruptiven Technologien freiwillig abmildern werden? Oder sollte man
IT-Firmen zu Abgaben verpflichten, Frau Isenberg? „Sorry, dazu haben wir
keine offizielle Meinung.“
Grundeinkommen ist nicht gleich Grundeinkommen. Die Befürworter vertreten die unterschiedlichsten Ideologien
– von Konservativen und Libertären, die das bestehende Sozialsystem
ersetzen wollen, bis zum linken Spektrum, das das Grundeinkommen
ausschließlich durch zusätzliche Steuereinnahmen finanzieren will. Chris
Hughes gehört zu Letzteren. Er schließt sich Bill Gates‘ Forderung nach
einer Robotersteuer an; über sie würden Unternehmen, die Arbeiter durch
Roboter ersetzen, einen Ausgleich für die verlorenen Arbeitsplätze an
den Staat zahlen. Allerdings ist auch dieser Ansatz umstritten: Kritiker
mahnen, soziale Ungleichheit ließe sich effektiver bekämpfen, wenn das
Geld in den Ausbau des bestehenden Sozialsystems gesteckt werde, um
Bedürftige gezielt zu erreichen und Inflation zu vermeiden.
Doch was machen 500
Dollar im Leben von Bedürftigen tatsächlich aus? Wissen sie, was am
besten für sie ist oder brauchen sie Regeln und Anleitungen? Und führt
das Geld wirklich zu mehr Unternehmertum oder legen sich die Beglückten
auf die faule Haut?
Benjamin Saffold, der
jahrelang in Kathleen O’Neills Obdachlosenheim unter dem Autobahnkreuz
gearbeitet hat, ist skeptisch: „Für viele Bewohner dort wäre ein
bedingungsloses Grundeinkommen ohne Beratung eine schlechte Idee. Wer
drogenabhängig ist, wird es für noch mehr Drogen ausgeben. Andere haben
schlicht nicht gelernt, richtig mit Geld umzugehen.“ Bürgermeister Tubbs
hält dagegen: „Unser Projekt soll zeigen, dass die meisten Menschen
weise Entscheidungen treffen, wenn sie eine Chance bekommen.“
Die Stocktonians neigen nicht zum Lamentieren
In Stockton leben die
Experten für diese Fragen dort, wo Bürgermeister Michael Tubbs
aufgewachsen ist: Wer den Dr. Martin Luther King Boulevard herunterfährt
und in die Mariposa Road abbiegt, kommt ins Arbeiterviertel
Nightingale. Je weiter nach Norden und Westen man kommt, desto reicher
und weißer wird Stockton – Nightingale liegt am entgegengesetzten Ende
der Stadt, ganz im Südosten. Bauzäune schirmen jede noch so kleine Hütte
ab. Im Radio läuft Werbung für Agenturen, die die Kreditlinie
verbessern oder Schecks noch vor der Ausstellung auszahlen –
Dienstleistungen für die Verzweifelten, zu horrenden Gebühren. Die
Straßen sind leer, nur aus dem Waschsalon und dem Family-Dollar-Laden
kommt hin und wieder ein Mensch.
„500 Dollar? Jeden
Monat? Für drei Jahre? Woaaah!“ Charles George schiebt sein Fahrrad den
Bürgersteig hinunter. Er freut sich, in der Stadtwüste jemanden zum
Reden gefunden zu haben. „Dann müsste ich ernsthaft auskundschaften, wer
das Geld am dringendsten braucht. Wie ein Weihnachtsmann würde ich bei
ihnen auftauchen und ein Segen für sie sein.“ – „Charles, die Sponsoren
im Silicon Valley meinen, sie hätten die Leute schon gefunden, die das
Geld am dringendsten brauchen: Sie alle hier in Stockton. Was würden Sie
selbst mit dem Geld machen?“ – „Pfff, ich überlebe.“ Dabei könnte
George das Geld gebrauchen: Der 62-jährige lebt von Sozialhilfe und
kommt damit gerade so zurecht.
Eine Nachbarin und
ihr Neffe kommen hinzu: Was würden sie mit 500 Dollar tun? Sie würde
ihre Nichten und Neffen mit Schuhen ausstatten, sagt die Nachbarin. Der
Junge wünscht sich „Möbel, damit ich mich zu Hause hinsetzen kann“.
Und die anderen 314.900 Einwohner?
„So
viel Aufhebens um ein Projekt, das 100 Menschen in einer
315.000-Einwohner-Stadt unterstützt“, sagt Benjamin Saffold. Der
52-Jährige sieht sich als Aktivist, der die Lokalpolitik beobachtet und
Rechenschaft fordert. Das Grundeinkommen von Bürgermeister Tubbs sei,
„als wolle man mit einem halben Glas Wasser den Durst von Tausend
Menschen in der Wüste stillen“, sagt er. An den großen Problemen in
Stockton aber, der schlechten Bezahlung, den hohen Mieten, an
Drogenabhängigkeit und Waffengewalt, ändere es nichts.
Er möge Michael Tubbs
sehr, beeilt sich Saffold zu sagen, während er Richtung Rathaus
schlendert. Er sei Mitglied der gleichen Kirchengemeinde wie seine
Familie und kenne ihn von Kindesbeinen an. Doch er befürchtet, dass
Tubbs das dreijährige Projekt lediglich als Aushängeschild für sich
nutzen will, um weiter Karriere zu machen. „Am Ende seiner Amtszeit
bleibt Stockton high and dry zurück, ohne Anschlussprojekt oder nachhaltigen Nutzen.“
Saffold ist mit
seiner Kritik nicht allein. Die ehemalige Vize-Bürgermeisterin, Ratsfrau
Christina Fugazi, beklagt die hohen Ausgaben des Bürgermeisters, der
zugleich aus Kostengründen eine Bücherei im armen Ostteil der Stadt
geschlossen hält und ein Förderprogramm für benachteiligte Jugendliche
gekürzt hat.
Wer Arbeit hat, gilt schon als „Mittelklasse“
Doch
die Stocktonians neigen nicht zum Lamentieren. Wer einen (auch noch so
bescheidenen) Job und ein (noch so kleines) Dach über dem Kopf hat,
bezeichnet sich schon als Mittelklasse. Dabei sind viele der Arbeiter
bitterarm. „Eines der Hauptprobleme sind die Big Boxes“, sagt Serena
Williams. So nennt sie die Fastfood- und Ladenketten, die Angestellte
zum lokalen Mindestlohn von 10,50 Dollar (8,90 Euro) beschäftigen – fast
ausschließlich in Teilzeit und mit so unregelmäßigen, kurzfristig
geplanten Schichten, dass sie sich schwer mit einem Zweitjob oder
Familienleben vereinbaren lassen.
Wer wie Williams
früher 25 Wochenstunden arbeitet, kommt damit auf knapp über 1.000
Dollar brutto; schon die Miete für ihre Einzimmerwohnung kostet mehr.
Mit 36 Jahren muss sich Williams deshalb noch immer von ihrer Mutter
unterstützen lassen, bei der auch ihre beiden Kinder wohnen, weil ihre
Wohnung so winzig ist.
Williams würde das
Grundeinkommen nutzen, um ihr Studium zu beenden, das sie aus Geldnot
abgebrochen hat, und um ein Kunstzentrum für Jugendliche zu gründen.
Doch durch Geld alleine lässt sich Armut nicht beheben, glaubt sie: Sie
vererbe sich über Generationen hinweg. Es grämt Williams, dass auch sie
ihren Kindern so vieles nicht bieten kann – keinen Vater, wenig Zeit und
kein gemeinsames Zuhause. Als ihre Tochter 14 Jahre alt war,
schmetterte sie ihr entgegen: „Ich will nie so werden wie du!“ Serena
Williams lächelte nur müde. „Gut. Dann habe ich immerhin etwas
erreicht.“
Auch Kathleen O’Neill
hofft, ihrem Sohn eines Tages wieder eine Wohnung bieten zu können –
egal, ob durch ein größzügigeres Sozialsystem, einen höheren
Mindestlohn, niedrigere Mieten oder ein Grundeinkommen. Doch ihr ist
klar: Ihre Chancen, für das Projekt des Bürgermeisters ausgewählt zu
werden, sind kaum größer, als im Lotto zu gewinnen.
via www.zeit.de