Reportage | Christina Felschen

Tomohiros Schweigen

Ayakos and Tomohiros Haus stand nur 30 Kilometer von dem Atomkraftwerk entfernt, das am 11. März 2011 schlagartig berühmt wurde. Als bereits alle Welt von Fukushima sprach, bereiteten sie noch seelenruhig Reisbällchen zu; erst ihre Kinder aus Tokyo überredeten sie zur Flucht. Nur die Katze blieb zurück – und die Erinnerung an Freunde und Nachbarn, von denen sie nie wieder gehört haben.

Ayakos and Tomohiros Haus stand nur 30 Kilometer von dem Atomkraftwerk entfernt, das am 11. März 2011 schlagartig berühmt wurde. Als bereits alle Welt von Fukushima sprach, bereiteten sie noch seelenruhig
Reisbällchen zu; erst ihre Kinder aus Tokyo überredeten sie zur Flucht. Nur die Katze blieb zurück – und die Erinnerung an Freunde und Nachbarn, von denen sie nie wieder gehört haben.

Als in Japan vor zwei Jahren in Japan die Erde bebt, halten Ayako and Tomohiro Konno in ihrer Arbeit inne. Sie produzieren und verkaufen Backsteine – ein florierendes Unternehmen. Viele Großstädter bauten Häuser in Fukushima, um ihren Lebensabend in der idyllischen Provinz zu verbringen. „Wir sind es gewohnt, dass die Erde zittert. Das passiert eben alle paar Monate mal. Aber dies -„, Ayako nimmt Tomohiros Hand.

„Dies war kein normales Beben. Es dauerte viel zu lange.“ Das Paar sitzt mir gegenüber auf dem Panoramadeck der Ocean Dream, Wind und Sonne auf der Haut. Fukushima ist weit weg, doch das Thema immer da.

Seit wir auf See sind, erreichten uns drei Erdbebenmeldungen aus Japan, jede bringt den Schrecken des 11. März zurück. Die japanische Nichtregierungsorganisation Peace Boat klärt seit dreißig Jahren über die Risiken von Atomkraft auf; nach 3-11 hat sie in den zerstörten Präfekturen Häuser aufgebaut und Hunderttausende Suppen verteilt.

Als die NGO auf ihrer Fahrt um die Welt eine taiwanische Bürgerinitiative besucht, die gegen ein Atomkraftwerk kämpft, lassen die Tonnos eine Botschaft überbringen. Sie selbst machen statt dessen lieber eine Sightseeing-Tour. „Wir brauchen Abstand.“

Wer selbst nichts dergleichen erlebt hat, kann sich die Risiken kaum vorstellen“, sagt Tomohiro Tonno. Atomkraft, das ist für viele Japaner die „gute“ Energie; das Wort dafür – „genshi“ – hat etymologisch nichts zu tun mit „kaku“, der zerstörerischen Kraft, die für Nuklearwaffen genutzt wird.

Das suggeriert einen Unterschied, der wissenschaftlich nicht existiert. Beides setzt die Spaltung von Plutonium und Uran voraus; ein Land, das Atomkraftwerke hat, kann auch Atombomben bauen. Die Liberaldemokratische Partei, die bei den Wahlen am 16. Dezember 2012 die Macht in Japan zurückerlangt hat, hat jegliche Diskussion über einen Atomausstieg um drei weitere Jahre verschoben.

Die Tonnos glaubten an die Mär vom guten „genshi“. Sie rissen sich nicht um ein AKW in der Nachbarschaft, aber dagegen protestieren – ach wo.

„Wir sagten uns: Irgendwo muss die Energie ja herkommen“, erinnert sich Tomohiro. Und im März 2011 dachten sie erst recht nicht an das Daichi-Werk, das 30 Kilometer von ihrem Haus entfernt an der Küste stand. Sie hatten Wichtigeres zu tun.

Onigiri-Bällchen rollen zum Beispiel. Denn mit der ersten Tsunamiwarnung füllte sich ihre Firma mit Flüchtlingen, die ihre Häuser an der Küste verlassen mussten. „Wir brachten sie im Pausenraum unter“, erzählt Ayako. „Sie mussten ja irgendwo hin, einen Evakuierungsplan gab es nicht.“ Also bereitete sie Reisbällchen und ihr Ehemann servierte – an ihren guten Sitten als Gastgeber sollte das Erdbeben nicht rütteln. Damit waren sie so beschäftigt, dass sie nicht einmal den Fernseher anschalteten.

„Abends kam meine Freundin zu mir in die Küche und flüsterte: ‚Ich habe Decken in den Kofferraum gepackt. So können wir jederzeit losfahren.‘ Erst da ahnte ich, dass wir vielleicht doch nicht so sicher waren wie die Regierung uns glauben machte.“

Als die Tonnos sahen, dass die Familien der Tepco-Arbeiter flohen, verließen auch sie ihre Stadt. „Wir nahmen nur die Klamotten mit, die wir trugen, denn wir wollten ja bald zurück kommen. Alle dachten so.“

Doch ihre Odyssee hatte gerade erst begonnen. Sie blieben nie lange an einem Ort, Flüchtlingsunterkünfte gab es nicht und ihre Verwandten hatten nicht ausreichend Platz. Nach sieben oder acht Umzügen landeten sie in Tokio, wo die Regierung einige Wohnungen zur Vermietung an die Fukushima-Flüchtlinge reserviert hatte.

Die Tonnos kehrten noch zehn Mal ins verstrahlte Gebiet zurück, um ihre Firma zu schließen. Jetzt würde hier niemand mehr Backsteine brauchen, das wurde Ayako gleich klar. „Die Straßen unserer Stadt waren schon immer schmal“, sie lacht beim Erzählen, aber ihre Augen füllen sich mit Tränen. Noch einmal sieht sie Tsushima vor sich – die Geisterstadt, die nur noch in der Erinnerung existiert. Die überwucherten Straßen. Die halb zerfallenen Häuser.

„Wir hatten eine Katze.“ Tomohiros Mundwinkel zucken, er schiebt seinen Barhocker zur Seite und geht ohne ein Wort hinaus. Ayako nickt. „Als wir im April zurückkamen, sahen wir sie noch lebendig.“ Sie flüstert jetzt fast. Die Stimme der Übersetzerin zittert. Ich halte die Luft an. „Sie sprang zu uns ins Auto. Als wollte sie sagen: ‚Lasst mich hier nicht allein.‘ Aber in unseren Unterkünften gab es keinen Platz für sie. Wir sahen sie nie wieder.“

Tomohiro kommt zurück. „No nuke“, sagt er auf Englisch. Viel zu spät sei diese Erkenntnis gekommen. „Wir haben die Atomenergie passiv unterstützt, weil wir geschwiegen haben.“ Seit sie in Tokio wohnen, versuchen sie alles nachzuholen.

Gehen auf Demos. Arbeiten als Freiwillige für Peace Boat – und bekamen dafür die Reise erstattet. „Zusammen haben wir eine Millionen Yen (Zehntausend Euro) von der Regierung erhalten, doch um unseren Verlust zu kompensieren, reicht das nicht“, sagt Tomohiro. „Wir haben keine Arbeit und kein Zuhause mehr.“

Die Loungemusik aus den Lautsprechern geht in die dritte Schleife, der Barkeeper mixt Cocktails und im Pool platschen Teenager. Tomohiros Blick verliert sich in der Ferne.

Der Ozean ändert sich täglich. Es ist nicht so sehr die Form der Wellen, sondern all das schon Vergessene und noch Erhoffte, das aus ihm auftaucht, wenn wir ihn lange betrachten. Für einen Moment wirkt Tomohiro unendlich verlassen.

via taz.de