article | Elena Matera

Thwaites-Gletscher: Kollaps könnte auch Deutschland bedrohen

Berlin - Kilometerlange Risse ziehen sich durch das Eis des antarktischen Thwaites-Gletschers - die Entdeckung eines Forschungsteams beunruhigt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weltweit. Der Grund: Die Risse könnten zu einem Kollaps des Gletschers und damit zu einem rapiden Anstieg des Meeresspiegels führen - auch deutsche Küstenstädte wären bedroht.

Berlin – Kilometerlange Risse ziehen sich durch das Eis des antarktischen Thwaites-Gletschers – die Entdeckung eines Forschungsteams beunruhigt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weltweit. Der Grund: Die Risse könnten zu einem Kollaps des Gletschers und damit zu einem rapiden Anstieg des Meeresspiegels führen – auch deutsche Küstenstädte wären bedroht. Und dennoch: Die Geschehnisse in der Antarktis werden kaum in der Öffentlichkeit und der Politik thematisiert. Wie kommt es zu den Rissen im Eis? Welche Rolle spielt der Klimawandel dabei? Und warum ist gerade der Thwaites-Gletscher so bedrohlich für uns?

Der Thwaites-Gletscher liegt im Westen des antarktischen Kontinents und ist einer der größten und höchsten Gletscher der Region. Mit einer Gesamtfläche von 192.000 Quadratkilometern übertrifft er die Größe von Tschechien, Österreich und der Schweiz zusammen.

Der Gletscher befindet sich auch nicht nur auf dem Festland, sondern schiebt sich kilometerweit in den Ozean hinaus. In der Nähe des Festlandes hat das Eis noch Kontakt zum Meeresboden, verliert es diesen Kontakt, ist es Schelfeis. Diese Hunderte von Metern dicken schwimmenden Eisplatten machen rund ein Drittel des Thwaites-Gletschers aus. Und in eben diesem Schelfeis wurden die gewaltigen Risse entdeckt. 

Risse im Eis seien an sich nichts Ungewöhnliches, erklärt Angelika Humbert, Glaziologin am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven (AWI). Sie entstehen durch Spannung und Kräfte, die auf das Eis wirken. Denn der Gletscher ist ständig in Bewegung. „Doch im Fall Thwaites schrillen nun die Alarmglocken“, sagt die AWI-Wissenschaftlerin. Mittlerweile ziehen sich die diagonalen Risse beinahe durch die gesamte Fläche des Schelfeises. Das konnte ein US-Forscherteam um Erin Pettit, Glaziologin an der Oregon State University, mithilfe von Satellitenbildern ausmachen, die im November aufgenommen wurden. 

Besorgniserregend sei auch, dass sich die Bewegung des Eises entlang der Risse beschleunige, sagte Pettit auf einer Tagung der Non-Profit-Organisation American Geophysical Union. Die Forschenden gehen davon aus, dass das Schelfeis bereits in drei bis fünf Jahren zerbrechen werde. Das Schelfeis werde dann vermutlich in zahlreiche Eisberge zerfallen, und der Rest des Thwaites-Gletschers werde dreimal schneller ins Meer abfließen.

Bislang gibt das Schelfeis dem Gletscher noch Halt und bremst dessen Fluss in den Ozean ab, wie ein Korken. Ein Grund dafür sind auch kleine untermeerische Felsinseln, bei denen die schwimmende Eismasse auf Grund läuft, erklärt Glaziologin Humbert. Durch den Kontakt mit dem Boden werden die Eismassen gebremst. Diese rückhaltende Kraft wirkt sich auf den Gletscher aus. Das Schelfeis ist also eine Art Barriere zwischen Festlandgletscher und Ozean.

„Wenn das Schelfeis zerbricht, geht dessen rückhaltende Kraft verloren. Der Gletscherfluss beschleunigt sich und der Meeresspiegel steigt“, sagt Humbert. Bereits heute sei das Schmelzwasser des Thwaites-Gletschers für vier Prozent des globalen Meeresspiegelanstiegs verantwortlich.

Ein Kollaps des Thwaites-Gletschers würde zu einem Meeresspiegelanstieg von 65 Zentimetern führen, schätzen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Allerdings würde solch ein Kollaps vermutlich erst in einigen Jahrhunderten geschehen. 

Wird das Schelfeis tatsächlich in drei bis fünf Jahren zerbersten? „Eine genaue Vorhersage kann man da eigentlich nicht treffen“, sagt Angelika Humbert. „Man kann das Ganze gut mit einer Kaffeetasse, die einen Riss hat, vergleichen. Sie wissen, dass die Tasse zerbrechen wird. Doch wann genau es passieren wird, ist schwer vorherzusagen. So ist es auch beim Schelfeis“, sagt Humbert. „Was wir allerdings wissen: Wenn es zerbricht, geschieht das wahnsinnig schnell.“

Einen anschaulichen Vergleich hat auch die Wissenschaftlerin Erin Pettit in ihrem Vortrag gegeben. Das Eis sei wie eine Windschutzscheibe, in der kleine Risse zu sehen sind, erklärte sie. „Sie denken, dass sie sich besser eine neue Windschutzscheibe kaufen sollten. Doch eines Tages, bang – gibt es plötzlich eine Million weiterer Risse.“ Und so werde auch das Schelfeis zerbersten.

Zerbricht das Schelfeis, wird eine Kettenreaktion ausgelöst. Der Thwaites-Gletscher fließt immer schneller ab. Das kann wiederum dazu führen, dass benachbarte Gletscher in sein Becken rutschen und ebenfalls schmelzen. Der Thwaites-Gletscher könnte letztendlich das gesamte westantarktische Eisschild mit sich reißen – das würde zu einem globalen Anstieg des Meeresspiegels um 3,30 Meter führen, vermuten die Forschenden um Erin Pettit. Das hätte fatale Folgen: Zahlreiche Städte weltweit würden überflutet werden, etwa Hamburg, oder sogar ganz versinken, wie Büsum in Schleswig-Holstein. Sturmfluten würden sich häufen, das Grundwasser versalzen und Gebiete unbewohnbar werden. „Das wäre eine globale Veränderung“, sagt auch Robert DeConto, Glaziologe an der University of Massachusetts in der Fachzeitschrift Science. „Unsere Küsten werden aus dem Weltraum heraus komplett anders aussehen.“ 

Vor allem Menschen in Ländern wie Thailand, Ägypten, Pakistan, Indonesien und Bangladesch würden darunter leiden. Denn Millionen von Einwohnern leben dort in Gebieten, die unter Wasser stehen könnten, wenn der Meeresspiegel nur um einen halben bis ganzen Meter steigen würde. Ihr Lebensraum würde versinken. Die Folge: Sie müssten umgesiedelt werden. Auch große Flüchtlingsströme in sichere Gebiete sind nicht auszuschließen. Nicht ohne Grund trägt der Thwaites-Gletscher daher auch den unheilvollen Namen Doomsday Glacier, auf Deutsch: Gletscher des jüngsten Gerichts.

In den vergangenen Jahren hat sich das Schmelztempo des Gletschers bereits deutlich erhöht. Ein entscheidender Grund: der Klimawandel. Das immer wärmer werdende Tiefenwasser unterspült das Schelfeis des Thwaites-Gletscher und schmilzt es von unten. Die Linie, an der das Eis den Grund berührt, verschiebt sich landeinwärts und in die Tiefe – ein Vorgang, der sich selbst verstärkt. 

Ein Team um Peter Washam von der Cornell University konnte diesen Vorgang mit einem ferngesteuerten Tauchroboter beobachten. Die Aufnahmen zeigten, dass die Gletscherunterseite dort schon stark angegriffen war. Die Schelfeisplatte dünnt immer weiter aus, wird instabil. „Auch wenn das Schelfeis nicht zerbricht, sondern nur dünner wird, hat es weniger Rückhaltekraft und der Gletscher kann schneller ins Meer fließen“, sagt Humbert. 

Hinzu komme, dass der Gletscher aufgrund der Topografie nach innen geneigt und daher an sich instabil sei. Auch diese Neigung verstärke den Gletscherfluss. Es würden also mehrere Faktoren zusammenkommen, die letztendlich zu einem rapiden globalen Meeresanstieg führen könnten. „Wir können auf jeden Fall beim Thwaites-Gletscher sagen: Die Warnglocken schrillen“, sagt die Glaziologin. 

Mit der Erderwärmung werden die Risse im Schelfeis und das Abfließen des Gletschers immer weiter verstärkt. Im Juli vergangenen Jahres vermeldete die Weltorganisation für Meteorologie (WMO) bereits einen neuen Temperaturrekord für die Antarktis: 18,3 Grad Celsius zeigten am 6. Februar 2020 die Thermometer an der Esperanza-Station auf der Antarktischen Halbinsel.

Neben dem Thwaites-Gletscher sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch über den beschleunigten Rückzug des Schelfeises vor dem riesigen Pine-Island-Gletscher besorgt. Dieser liegt ebenfalls in der Westantarktis – ein Nachbar des Thwaites-Gletschers. Laut dem amerikanischen Fachjournal Science Advances könnte in den kommenden 200 Jahren allein der Pine-Island-Gletscher gut fünf Zentimeter zur Erhöhung des weltweiten Meeresspiegels beitragen.

Das Abschmelzen des Pine-Island-Gletschers macht nach Angaben der Forschenden derzeit etwa 40 Prozent des Eisverlustes in der Westantarktis aus, die besonders stark vom Abschmelzen des antarktischen Eises betroffen sei. Pine-Island schmilzt aktuell einen Meter pro Jahr. Nicht nur in der Westantarktis, auch in der Ostantarktis sind solche Veränderungen zu beobachten. Im sogenannten Brunt-Schelfeis ist vergangenes Jahr ein Eisberg, dessen Fläche etwa 1,5-mal so groß wie Berlin ist, abgebrochen. Ursache war ein enormer Riss, der sich mit einem Kilometer pro Tag durch das 150 Meter dicke Schelfeis gefressen hatte. 

Bereits in den vergangenen zwanzig Jahren hat sich das Abschmelzen der Gletscher in der Antarktis und auf Grönland beschleunigt, berichteten Wissenschaftler im April 2021 in der Fachzeitschrift Nature. In den ersten fünf Jahren des genannten Zeitraums seien es 227 Milliarden Tonnen Eis gewesen, in den letzten fünf Jahren 298 Milliarden Tonnen. Das weltweit schmelzende Gletschereis habe rund 21 Prozent pro Jahr zum beobachteten Anstieg des globalen Meeresspiegels beigetragen.

Mit steigender Erderwärmung wird dieser Prozess des Schmelzens nur verstärkt. „Die Einschränkung von Treibhausgas-Emissionen ist das Mittel der Wahl, weil wir so verhindern können, dass die Ozean- und Atmosphärentemperaturen weiter ansteigen“, sagt Humbert. Es sind also harte Klimaschutzmaßnahmen nötig, um den Gletscher-Kollaps zu verhindern.

 

Das Versagen des Schelfeises sei eine Warnung, dass der Thwaites-Gletscher und der Rest des westantarktischen Eisschildes innerhalb von Jahrzehnten erhebliche Verluste erleiden könnten, insbesondere wenn die Kohlenstoffemissionen nicht sinken, sagt auch Wissenschaftlerin Erin Pettit. Die Risse im Eis des Thwaites-Gletschers sind also viel mehr als nur irgendwelche Risse. Sie sind ein weiteres Warnsignal dafür, dass wir Menschen mit unserem jetzigen Verhalten die Entwicklungen in den kommenden Jahrhunderten entscheiden. 

via www.berliner-zeitung.de