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Suizid bei Männern: Let’s talk about it!

Männer bringen sich dreimal häufiger um als Frauen. Die Gründe sind vielseitig, doch Betroffene und Expert:innen sind sich einig, dass nur eine Sache hilft: darüber reden. Illustration: Maria Hüttl. 2014 war das Jahr, in dem sich für Verena und Knobi alles änderte: Michel, ein guter Freund aus der Fanszene des FC St.

Männer bringen sich dreimal häufiger um als Frauen. Die Gründe sind vielseitig, doch Betroffene und Expert:innen sind sich einig, dass nur eine Sache hilft: darüber reden. Illustration: Maria Hüttl.

2014 war das Jahr, in dem sich für Verena und Knobi alles änderte: Michel, ein guter Freund aus der Fanszene des FC St. Pauli, hatte sich das Leben genommen. Wirklich angedeutet hatte sich das nicht. Zwar hatte sich Michel mehr und mehr zurückgezogen, doch sein damaliger Mitbewohner Knobi dachte, dass Stress im Job der Grund sei.

Der vorliegende Artikel ist im November 2021 als Radiobeitrag aufgezeichnet worden. Diesen Beitrag könnt ihr hier hören.

Doch das Problem saß tiefer: Michel hatte mit einer Depression zu kämpfen, aus der er am Ende keinen anderen Ausweg sah, als den Suizid.

„Männer wollen immer alles selber wuppen“

„Wenn man mutterseelenallein ist, dann kann das so schwer sein, dass man einen Aus-Knopf sucht und meint, ihn im Suizid zu finden“, sagt Reinhard Lindner. Er war Chef am Therapiezentrum für Suizidgefährdete am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf und leitet nun das Nationale Suizidpräventionsprogramm (NaSPro), ein bundesweites Netzwerk, an dem unter anderem der Bundestag, verschiedene Ministerien aber auch zivilgesellschaftliche Initiativen beteiligt sind.

Viele Männer hätten mit diesem Problem zu kämpfen, sagt Lindner. Sie hätten Schwierigkeiten, sich bei Problemen anderen Menschen anzuvertrauen und „immer noch im Kopf, dass sie keine richtigen Männer sind, wenn sie nicht alles selber wuppen“. Diese Einstellung, alles selber und autonom zu regeln, kann manchmal sogar den eigenen Tod betreffen.

Einfach mal nachfragen

Bevor es so weit kommt, kann man als außenstehende Person aber aufmerksam auf die Person zugehen. „Wenn sich ein Freund, eine Freundin immer mehr zurückzieht, dann muss das nicht, aber kann das ein Anhaltspunkt sein, mal nachzufragen. Man muss dann ja nicht gleich von Suizid oder Selbstmord sprechen, aber man kann sich als Gesprächspartner oder Gesprächspartnerin anbieten“, sagt Lindner.

Schmerzlich musste das auch Verena erfahren, wie sie sagt: „Man kann da herumphilosophieren, hätte, wenn und aber, es war halt nicht so.“ Und in die Zukunft gerichtet: „Man kann den Leuten sagen, wenn es euch nicht gut geht, sprecht einfach darüber.“

„St. Pauli halt“

Deswegen gründeten die beiden zusammen mit weiteren Freunden den Verein St. Depri, angelehnt an die beiden Faktoren, die alle verbindet: Michels Depression und den Fußballverein. „St. Pauli halt“, wie Knobi sagt.

Einmal im Monat trifft sich der Verein seitdem. „Wir haben einen therapeutisch geführten Stammtisch und reden über ein Thema, das mit Depression zu tun hat. Das kann zum Beispiel Sucht sein – oder die Angehörigen. Über das Thema wird ein fachlicher Vortrag von einer halben Stunde gehalten“, sagt Verena.

Nach dem Vortrag gibt es für alle, die da sind, die Möglichkeit, Fragen an die vortragende Person zu stellen, ins Gespräch mit anderen Teilnehmer:innen zu kommen oder sich anonym an die Ehrenamtlichen von St. Depri zu wenden.

Niedrigschwellige Angebote zur Suizidprävention

Solche Gesprächsangebote sind für Reinhard Lindner zentral: „Wichtig bei der Suizidprävention ist, dass man nicht monatelang warten muss.“ Das Problem: Aktuell beträgt die Wartezeit auf einen Therapieplatz in Deutschland teilweise mehrere Monate. Den St. Depris ist bewusst, dass ihr Angebot an therapeutischen Gesprächen einen solchen Platz nicht ersetzen kann. Dennoch könne damit in manchen Fällen die Wartezeit sinnvoll überbrückt werden oder die Situation entspanne sich glücklicherweise in der Zeit, sagt Verena.

Zudem kooperiert der Verein mit vier Psychotherapeut:innen und vier Hamburger Krankenhäusern, um auch im Fall einer akuten Suizidgefahr professionelle Hilfe zu ermöglichen.

Ergänzend zu den monatlichen Stammtischen und den therapeutischen Gesprächen unterstützt der Verein auch dabei, Briefe öffnen. Das klingt ungewöhnlich, macht aber durchaus Sinn: In einer schwierigen Lebens- oder Depressionsphase kann selbst das Öffnen von Post überfordernd und beängstigend wirken. Rechnungen, Mahnungen und selbst erfreuliche Post stapeln sich dann immer höher und immer bedrohlicher. Hier begleiten die Ehrenamtlichen auf Wunsch und sorgen dafür, dass die Personen beim Öffnen ihrer Briefe nicht alleine sind.

Suizid bei Männern: Hoffnung in Sicht

Und auch den Mitgliedern selbst hilft die Arbeit bei St. Depri: Knobi entwickelte wenige Monate vor Michels Tod ebenfalls eine Depression und tat sich erst noch schwer, darüber zu reden. „Ich hab das auch erst lernen müssen. Ich war auch krankheitsbedingt immer eher verschlossen. Mir hat es dann aber tatsächlich geholfen, anzufangen, darüber zu sprechen und ich trage das auch so an meine Leute weiter.“

Lindner blickt optimistisch in die Zukunft, denn insgesamt sinken die absoluten Suizidzahlen seit Jahren kontinuierlich und somit auch die Suizide bei Männern. Das Verhältnis Männer-Frauen bleibe jedoch relativ konstant, sagt Lindner: Männer bringen sich dreimal häufiger um als Frauen. Deswegen bleibe es gesellschaftlich wichtig, das bestehende Männlichkeitsbild weiter aufzubrechen. Hier beobachtet er aber ebenfalls einen Wandel, denn mit einem Generationwechsel verliert auch das durch Heldentum geprägte Männlichkeitsbild aus Zeiten des Zweiten Weltkriegs an Einfluss und Männer trauen sich endlich, das zu tun, was so wichtig ist: darüber reden.

Wenn ihr Suizidgedanken habt, das Gefühl habt, nicht weiter zu wissen oder euch allein fühlt, dann ist die Telefonseelsorge rund um die Uhr für euch da. Auch anonym. Ihr erreicht sie unter der 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 oder im Internet per Chat oder Mail auf online.telefonseelsorge.de.

Benedikt Scherm, Jahrgang 1998, hat eine Katze überfahren. Damals, in der 5. Klasse auf dem Fahrrad, in einer Gemeinde in der Nähe von Bayreuth. Zu Schaden kam dabei aber nur er selbst. Heute präsentiert Benedikt gemeinsam mit einem Freund seine Erfolge aus der Küche auf Instagram, und auch dabei gibt es gelegentlich Unfälle: Hin und wieder brennt etwas an. Musikalisch interessiert ihn eine ganze Menge, von Deutschrap bis Lo-Fi und Techno, aber beim Klavierspielen ist er nie besonders weit gekommen, und wenn er im Auto mitsingt, sagen ihm seine Freunde, dass er bitte still sein soll. Er arbeitete unter anderem für den Nordbayerischen Kurier, den Bayrischen Rundfunk und die Süddeutsche Zeitung, in Passau studierte er Journalistik und strategische Kommunikation. Ob es für ihn am Ende Schreiben, Audio oder Video wird, muss er noch herausfinden – Journalismus muss es in jedem Fall sein. (Kürzel: ikt)

via fink.hamburg