Serhij Zhadan und die Kultur in Kriegszeiten
Er ist umjubelter Rocker, preisgekrönter Literat und Übersetzer: Serhij Zhadan aus Charkiw, 48 Jahre, seit Kurzem auch Träger des Friedenspreis des deutschen Buchhandels und des Hannah-Arendt-Preises. Und er ist Freiwilliger, der dank seiner Popularität rund um die Uhr mit Spendensammlungen und ...
Der ukrainische Schriftsteller und Rockband–Leader Serhij Zhadan hat Hunderte ins Kamea in Frankfurt (Oder) gelockt. Mit der MOZ spricht er über seine Rolle als „Kultur-Botschafter” und die Aufgabe von Wort und Musik im Krieg.
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Serhij Zhadan, wie fühlen Sie sich gerade, als „Kultur-Botschafter” der Ukraine in Deutschland?
In dieser Rolle fühle ich mich nicht besonders wohl, weil es eine sehr große Verantwortung ist, heute für mein ganzes Land zu sprechen, nicht mehr als Privatperson. Aber ich weiß, dass es jetzt Aufgabe von Kunst und Kultur ist, als solche „Diplomaten” und Vermittler aufzutreten. Also machen wir das jetzt.
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Was kann denn Kultur in Kriegszeiten tun?
Sie ist die Basis der Weltanschauungen und Werte, die uns mit dem friedlichen Leben verbinden. In der Ukraine sehe ich oft, wie sich Menschen an Kulturveranstaltungen festhalten. Sie wollen nicht nur mit dem Krieg leben, sondern auch ein bisschen im normalen Leben.
Das Allerwichtigste ist dabei das Kommunizieren, der Zusammenhalt. Nicht Ideologie, Politik oder Propaganda, sondern Empathie, Unterstützung und Solidarität. In der Ukraine ist das ganz stark spürbar. Und die Kultur ist ein grundlegender Bestandteil davon.
Welche Kulturformate sind jetzt wichtiger − an Ihrem Beispiel: Musik oder Literatur?
Ich sehe da keinen Unterschied. In Charkiw machen wir seit dem Frühjahr eine Kultur-Reihe „Das fünfte Charkiw”. Am Anfang in U-Bahn-Stationen, jetzt in Gebäuden mit Schutzraum. Da gibt es Diskussionen, runde Tische, Konzerte, Kino, Lesungen und Ausstellungen. Immer kommen viele. Das Publikum ist sehr offen. Wir brauchen nicht nur Gespräche über Politik, sondern auch über die Werte, mit denen wir unser Leben, unseren Raum füllen wollen. Wie wir unsere Stadt, unser Land gestalten wollen. Das sind oft sehr ernsthafte Diskussionen.
Im Frühjahr hörte man oft, jetzt sei keine Zeit für Kultur, erst wieder nach dem Krieg. Kultur sei ja nur Unterhaltung. Aber das ist Unsinn: Man kann Kultur nicht auf Pause stellen, Kultur darf nicht schweigen. Dass jetzt unter Raketenbeschuss in Charkiw Philosophie-Diskussionen und Literaturabende stattfinden, ist kein Zeichen von Leichtsinn, sondern von Kraft und Ernsthaftigkeit, mit der wir dem Krieg begegnen.
Wie verändert sich damit das Selbstverständnis der Ukrainer*innen?
Da findet gerade eine unglaublich schnelle Transformation statt: der Persönlichkeit, der Werte. Sehr viele Menschen überdenken viele Dinge neu, die mit Identität, Geschichte und kulturellen Markern verbunden sind. Das passiert nicht spontan, sondern sehr bewusst. Im Krieg und unter ständigem Informationsdruck. Dieser Prozess zeigt, dass wir bereit sind, für uns selbst einzustehen. Das wird auch nicht mehr rückgängig zu machen sein.
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via www.moz.de