feature | Christian Erll

Psychotherapie – Die schwere Suche nach einem Therapieplatz

Immer mehr Menschen nehmen eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch - wenn sie es denn können. Denn Therapieplätze sind knapp, zumindest bei Kassen-Therapeuten. Wer bei ihnen keinen Platz findet, darf auch zu einem privaten Therapeuten gehen. Doch seit der Einführung einer neuen Richtlinie ist genau das nahezu unmöglich.

Maike Klossek sitzt in einem hellen Raum des Sozialpsychiatrischen Dienstes in Bochum. Die 22-Jährige, die eigentlich anders heißt, hat die letzten zwei Stunden mit bunten Stiften Mandalas ausgemalt: Tägliche Arbeitstherapie, die helfen soll, ihren Alltag zu strukturieren. Klosseks Leidensgeschichte ist lang. Sie wurde in der Schule gemobbt, bekam Depressionen und Selbstmordgedanken und ging zum ersten Mal in die Klinik. Später entwickelte sie eine Sozialphobie. Zwei Jahre lang traute sie sich nicht mehr vor die Haustür. Dazu kamen Panikattacken und Selbstverletzungen. Seit ihrem letzten Klinikaufenthalt sucht sie einen Psychotherapeuten, den sie regelmäßig sehen kann. „Ich telefoniere in der Woche gefühlt jeden Tag immer zwei bis drei Stunden hin und her, um überhaupt jemanden zu erreichen. Also, einen Menschen und keinen Anrufbeantworter, und ich finde, das ist ganz schön lange schon.“ Seit fast zwei Jahren sucht sie jetzt. Keine Seltenheit im Ruhrgebiet – genauso wenig wie in ländlichen Regionen in ganz Deutschland. Zahlen der Bundespsychotherapeutenkammer von 2011 zeigten: 13 Wochen dauert es in Bochum im Schnitt, an einen ersten Termin zu kommen, über 40 sogar in Bottrop. Aber auch auf dem Land lag die Wartezeit bei durchschnittlich 15 Wochen. Wohlgemerkt: Nur für den Besuch einer Sprechstunde, in der ein Therapiebedarf erst zu ermitteln wäre.

Psychotherapie wichtigster Einzelposten bei Termin-Servicestellen

Eine neue Richtlinie soll seit 2017 den Zugang zu Psychotherapie beschleunigen. Denn seelische Erkrankungen werden immer häufiger diagnostiziert. Nach den Berichten der Krankenkassen sind sie mittlerweile für knapp ein Fünftel der Fehltage verantwortlich. Mit der Reform wurden die Ärzteorganisationen, die Kassenärztlichen Vereinigungen, verpflichtet, Termine bei Kassentherapeuten anzubieten. Vorgesehene maximale Wartezeit: vier Wochen. Seit einem Jahr gilt diese Regelung – und sofort machte Psychotherapie 2017 den wichtigsten Einzelposten aller Anfragen bei den Termin-Servicestellen aus.

„Von diesen 190.000 sind rund 50.000 Nachfragen nach Psychotherapeuten-Terminen gewesen. Die haben sich also vom Stand weg auf Platz Eins der Nachfrage gehievt. Vor dem Hintergrund von einer Milliarde Arzt-Patienten-Kontakten ist das wenig, aber immerhin: Die Nachfrage nach psychotherapeutischen Terminen ist hier bei den Terminservicestellen am stärksten ausgeprägt gewesen“, bilanziert Roland Stahl, Sprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.

Dabei kennen noch längst nicht alle Versicherten die Servicestellen zur Terminvermittlung bei Ärzten. Erste Versuche zu deren Leistungsfähigkeit ergaben allerdings auch, dass es oft kein Durchkommen gibt. Die Terminservicestellen vermitteln zudem fast nur die sogenannten Erstgespräche. Seit dem 1. April dieses Jahres sind diese Erstgespräche Pflicht, um überhaupt eine Kurz- oder Langzeittherapie zu bekommen. Maike Klossek hat allerdings schon genug davon gehabt. „Erstgespräche gehen klar für die meisten. Und danach kommt man immer auf diese Wartelisten, die dann ab einem halben Jahr anfangen und über ein Jahr gehen. Und in der Zeit fühlt man sich quasi selber aufgegeben. Und dann hat man keine Motivation, weiterzusuchen, weil man weiß: Beim nächsten ist es genauso.“


Kassenärzte klagen gegen Terminvermittlungsverfahren

Klossek wird immer wieder bescheinigt: Ja, sie braucht ambulante Psychotherapie. Und eigentlich sollten die Terminservicestellen seit dem 1. April auch hier helfen und zwei bis fünf Kennenlern-Stunden vor dem Beginn der ambulanten Therapie vermitteln. Doch die Kassenärztlichen Vereinigungen klagen gegen diese zusätzliche Aufgabe. Sprecher Roland Stahl: „Nach einem Beschluss des Bundesschiedsamtes im November des vergangenen Jahres sollen die Terminservicestellen auch die sogenannten probatorischen Sitzungen vermitteln. Aber dagegen haben wir als KBV geklagt und diese Klage hat eine aufschiebende Wirkung. Das haben wir deswegen gemacht, weil es eben vom Gesetzgeber her gesehen nicht der Auftrag der Terminservicestellen gewesen ist jetzt, alle Termine zu vermitteln. Also hier sollten eigentlich die regulären Wege reichen.“ Für Patientinnen wie Maike Klossek hat sich an der Suche und den langen Wartezeiten auf die eigentliche Therapie also nichts geändert. „Was wirklich helfen würde, wäre eine Person, mit der man akut reden kann. Aber auch einfach über eine lange Zeit immer mal. Dass jemand für einen da ist. Und nicht einen direkt wieder fallen lässt.“ Soviel Nachfrage und so wenig Angebot: Heißt das, dass es einfach zu wenige Therapeuten gibt? Jedenfalls gibt es weit mehr als früher, das betonen Krankenkassen wie Kassenärzte gleichermaßen. Erst 2012 wurden Möglichkeiten für neue Zulassungen geschaffen.

„Wenn ich jetzt hier die bundesweite Brille aufsetze, sind die Versorgungssitze mit Psychotherapeuten besetzt, alle. Es sind in den letzten Jahren 1.300 neue Sitze geschaffen worden. Damit sind die Psychotherapeuten die am stärksten wachsende Gruppe in der ärztlichen Versorgung gewesen.“

Über 25.000 Psychotherapeuten und etwa 6.100 ärztliche Psychotherapeuten sind 2017 bei den Kassenärztlichen Vereinigungen in Deutschland zugelassen. Woher kommt der immens gestiegene Bedarf an Therapeuten? Mehr erkannte psychische Leiden und offenerer Umgang damit sind die Gründe, sagt der Psychiater Mazda Adli, Chefarzt an der privaten Fliedner-Klinik und Stressforscher an der Charité in Berlin.

„Das sieht man ja an vielen Statistiken, die diesen Prozess begleiten. Ob das jetzt die Fehlzeitenentwicklung ist, ob es auch die Verordnung von Medikamenten ist, die Zahl der Verrentungen ist. Alle diese Indikatoren zeigen eine sehr steile Kurve nach oben. Das heißt übrigens noch lange nicht, dass wir es hier mit einer Epidemie von psychischen Störungen zu tun haben, sondern dass die Diagnoserate gestiegen ist. Und dass die Zahl der richtig erkannten Fälle psychischer Erkrankungen gestiegen ist. Und: dass der Stellenwert von Psychotherapie in der Behandlungsplanung gestiegen ist. Richtigerweise, weil es den Stand der Forschung auch wiedergibt. Und dieser Entwicklung muss die Zahl der vorgehaltenen Psychotherapie-Plätze in irgendeiner Weise ja gerecht werden, und das wird sie bisher nicht.“

290 fehlende Kassensitze im Ruhrgebiet

Im Ruhrgebiet gibt es beispielsweise 50 Prozent weniger Therapeuten pro Einwohner als in vergleichbaren Regionen wie dem Rheinland oder der Metropolregion um Frankfurt am Main. Das hat eine Studie ergeben, die der Gemeinsame Bundesausschuss G-BA beauftragt hatte. Das Gremium aus Ärzte- und Kassenvertretern legt gemeinsam fest, wie hoch der Bedarf an Ärzten ist. Das Ergebnis der Auftragsstudie: Etwa 290 fehlende Sitze im Ruhrgebiet. Der G-BA beschloss im vergangenen November daraufhin eine Erhöhung um 85 neue Niederlassungen in den kommenden Jahren.

„Also, es ist nicht so, dass ich den Aufwand nicht aufnehmen würde. Aber ich würde das meinen Patienten nicht antun wollen. Die lernen mich erst mal kennen, um zu sehen: Geht das überhaupt. Dann denken die: Super, mit der kann ich arbeiten. Und dann versuchen wir da ein halbes, dreiviertel Jahr irgendwas durchzuboxen, was dann im Endeffekt doch nicht geht.“

Eine Informationsveranstaltung auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie DGVT im März in Berlin. Private Verhaltenstherapeuten tauschen sich über ihre Erfahrungen mit der Kostenerstattung aus. Diese Form der Therapie-Bezahlung ist im Fünften Sozialgesetzbuch festgelegt. Demnach dürfen Patienten auch zu privat abrechnenden Therapeuten gehen, wenn die Krankenkassen keinen Platz bei einem bei ihnen zugelassenen Therapeuten auftreiben. Dafür muss der Patient allerdings nachweisen, dass es unzumutbare Wartezeiten bei den Therapeuten in seiner Nähe gibt. Sofern die private Therapie den Richtlinien entspricht, soll die Krankenkasse die Kosten dafür übernehmen.

Frustrierte Patienten und Therapeuten

Felicitas Bergmann, die die Info-Veranstaltung leitet, hat über diesen Umweg der Kostenerstattung lange Zeit Kinder und Jugendliche therapiert. Erst kürzlich hat sie sich einen Kassensitz als Sonderbedarf erklagt. Weil sie nachweisen konnte, dass sie mit ihrer Privatpraxis dauerhaft einen Bedarf deckte, den die Kassentherapeuten nicht leisten konnten. Die Privatpraxen könnten eigentlich als Puffer agieren, sagt sie, weil die Wartezeiten bei privaten Therapeuten in der Regel deutlich kürzer sind. Aber die Kassen mauern, sagt Bergmann:

„Der hat vielleicht zeitnah einen Platz frei, aber da lehnen die Krankenkassen derzeit flächendeckend die Übernahme der Kosten ab. Das heißt, die Patienten werden wieder in eine Sprechstunde bei einem zugelassenen Therapeuten geschickt, und das Ganze dreht sich momentan im Kreis. Ich habe von Patienten gehört, die zehn oder noch mehr Sprechstunden besuchen mussten. Und stellen Sie sich vor: Zehn Mal einem fremden Menschen seine Geschichte erzählen. Zehn Mal keine Hilfe bekommen. Nicht nur die Patienten sind frustriert, sondern wir Therapeuten auch. Wir würden gerne helfen, müssen die Leute aber weiterschicken.“

Weil durch steigende Ausgaben in der Kostenerstattung die Unterversorgung deutlich werde, wollten die Kassen den Betrag weiter möglichst gering halten, so die Unterstellung der privaten Therapeuten.

Ob die zutrifft, lässt sich kaum überprüfen. Nach Zahlen des Spitzenverbands der Gesetzlichen Krankenversicherer werden insgesamt etwa zwei Prozent des Psychotherapie-Budgets für Kostenerstattung ausgegeben. Aus Wettbewerbsgründen nennen die meisten der zehn größten Kassen aber keine konkreteren Zahlen. Nur die IKK Classic beziffert als einzige die jährlichen Anträge auf etwa 800. Davon würden „durchschnittlich 20 Prozent“ abgelehnt. Ein Fünftel Ablehnung, das spricht für einen deutlichen Anstieg der Quote. Denn noch 2015 kam eine Befragung des Patientenbeauftragten der Bundesregierung auf durchschnittlich nur knapp sechs Prozent Ablehnungen.

Beschwerde beim Bundesversicherungsamt geplant

Alle angefragten Krankenkassen streiten ab, dass sie seit der letztjährigen Reform die Kostenerstattung pauschal ablehnten. Auch wenn die von den Privattherapeuten als besonders restriktiv gebrandmarkte Barmer Ersatzkasse etwas schwammig schreibt: „Das Ziel der Reform ab April 2017, Patientinnen und Patienten besser zu versorgen, erfordert […] einen anderen Umgang mit Anträgen zur Kostenerstattung. Dabei werden natürlich Besonderheiten eines einzelnen Falles nach wie vor in unsere Entscheidung einbezogen. Daher erstatten wir ggf. auch, sofern die maßgeblichen Kriterien erfüllt sind, weiter Kosten für die Behandlung bei einem Nichtvertragsbehandler.“

Die Erfahrung der Therapeuten ist eine andere, sagen sie, deswegen wollen sie die Politik der Ablehnungen künftig bundesweit unter dem Namen „Kassenwatch“ dokumentieren, und sich bei der zuständigen Aufsicht, dem Bundesversicherungsamt, beschweren.

Denn sich derart für dringend benötigte Hilfe mit der Krankenkasse streiten zu müssen, sei eine Zumutung für psychisch Kranke, sagt Therapeutin Felicitas Bergmann:

„Teilweise verweisen die Therapeuten mit Zulassung auch gezielt auf die Kollegen in privater Praxis, weil sie wissen: Die haben Kapazitäten frei. Und dann muss man sich gemeinsam überlegen: Versucht man diesen Antrag durchzukämpfen, so muss man es wirklich gerade sagen. Das schaffen nicht die Patienten, die besonders schwer erkrankt sind. Sondern das schaffen wirklich nur die, die noch die Energie haben, sich mit dieser Bürokratie auseinander zu setzen, Absagen zu sammeln, fünf bis zehn Stück. Ja, und dann die auch die Zeit haben abzuwarten, bis die Krankenkasse sich meldet. Und in ganz vielen Fällen ist es so: Die Krankenkassen haben fünf Wochen Zeit. Wenn eine Ablehnung kommt, und der Patient möchte das, wird ein Widerspruchsverfahren eingeleitet, das nochmal bis zu drei Monate dauern kann. Das ist das Absurde eigentlich an der ganzen Geschichte. Egal, was ein Patient macht, er muss sich immer auf lange Wartezeiten einstellen. Und vielleicht am Ende erneut auf eine Ablehnung.“

Werden Antrag und Widerspruch abgelehnt, bleibt nur der Gang vors Sozialgericht.

Krankenkassen skeptisch gegenüber neuen Kassensitzen

Zumindest solange keine neuen Kassensitze geplant sind. Der Gemeinsame Bundesausschuss G-BA hätte eigentlich zum Beginn des Jahres 2017 eine ganz neue Berechnung zum Bedarf an Kassensitzen vorlegen sollen. Denn die aktuelle Bedarfsplanung basiert immer noch auf Zahlen aus den 90er-Jahren und ist extrem ungleichmäßig: Ein Psychotherapeutensitz in Freiburg im Breisgau versorgt 850 Einwohner, einer im Landkreis Eichstätt in Oberbayern hingegen mehr als 8.200. Das Gutachten des Bundesausschusses steht aktuell jedoch immer noch aus, er rechnet mit ersten Ergebnissen Mitte dieses Jahres, schreibt der G-BA. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hätte gegen neue Therapeutensitze nichts einzuwenden, schließlich hätten die Krankenkassen aktuell auch genug Reserven, sagt Roland Stahl von der KBV: „Wenn es einen zusätzlichen Bedarf gibt nach Therapeutensitzen, dann sollten und können diese vor Ort geschaffen werden. Dazu gehören zwei Partner. Die KVen, die kassenärztlichen Vereinigungen auf der einen und die Krankenkassen auf der anderen Seite. Letztere sind genauso wichtig wie die Kassenärztlichen Vereinigungen, weil sie, die Kassen, haben das Geld.“ Die Krankenkassen sind da naturgemäß skeptischer. Erst einmal müsse die Auslastung der aktuellen Kassensitze überprüft werden, heißt es. Denn wer einen vollen Kassensitz hat, muss auch mindestens 20 Stunden die Woche mit Kassenpatienten arbeiten – nicht alle Kassenärztliche Vereinigungen prüfen gleichermaßen genau, ob das auch passiert.

Neue Kassensitze einzurichten sei überhaupt unnötig, sagt auch der Versorgungsforscher Heiner Melchinger aus Hannover. Der Bedarf an Psychotherapie sei aufgebläht. Andere Hilfsformen würden zu wenig genutzt:
„Sagen wir jetzt ein konkretes Beispiel: Jemand ist vereinsamt und hat dadurch einen Leidensdruck. Wenn ich mit dem individuelle Psychotherapie mache, da ändert sich nicht viel dran. Wenn der jetzt zu einer Beratungsstelle geht, die wiederum das ganze Netz von möglichen Hilfeangeboten kennt, dann kann der darüber eingeschleust werden. Zum Beispiel in eine Begegnungsstätte, wo er mit Leuten zusammen kommt. Also, es wird unterschätzt das Leistungsvermögen der komplexen Hilfen, die flächendeckend vorhanden sind.“

Alternativen zur Therapie

Hilfen eben wie die sozialpsychiatrischen Dienste der Landkreise und Städte. Andreas Brock, der eigentlich einen anderen Namen hat, landete wie Maike Klossek nach jahrelanger Depression in der Klinik. Motiviert, seine Probleme anzugehen, kam er aus der stationären Therapie. Und scheiterte an unzähligen Absagen und Wartezeiten von sechs bis neun Monaten. Hätte er nicht beim sozialpsychiatrischen Dienst Hilfe gefunden, hätte er aufgegeben, sagt er.

„Ich hatte halt zum Glück ja jetzt den Sozialarbeiter, der gesagt hat: ‚Wir versuchen es da nochmal oder wir gehen über den Weg‘. Und das war sehr hilfreich. Ich hätte das alleine nicht durchgezogen, muss ich so sagen.“

Brock gründete eine Selbsthilfegruppe. Er pflichtet deswegen dem Versorgungsforscher Melchinger bei, dass Alternativen zur Therapie zu wenig beachtet würden:

„Man findet immer Hilfe, auch wenn’s nicht bekannt ist. Das ist mir wichtig, dass die Leute dann nicht aufgeben, weil sie sagen: ‚Ich hab’s versucht, klappt nicht!‘ Sondern es gibt Stellen, wo man wirklich schnell, ohne Bürokratie, erst mal eine Unterstützung bekommt. Und mit der Unterstützung dann auch die Sachen angreifen kann, die vielleicht bürokratisch etwas herausfordernder sind.

Blockieren „leichte Fälle“ Ressourcen?

Doch auch für Brock war das nur eine Überbrückung. Er fand einen Therapieplatz in einer Praxis, die angehende Therapeuten ausbildet und darum Kapazitäten hatte. Und auch Brock weiß, dass die Frage nach den kurzfristigen Kosten den Blick auf den langfristigen Nutzen verstellt:

„Ich bin jetzt an dem Punkt, wo ich wieder vier Stunden jeden Tag arbeite. Das steigert sich auch noch weiter bis hoch zu sechs Stunden, bis ich dann wieder in einen normalen Arbeitsbereich gehen kann. Das heißt also: Man hat jetzt drei Jahre Kosten von mir gehabt für die Therapie. Und man hat drei Jahre Kosten von mir gehabt für das Arbeitsamt, das mich ja in der Zeit am Leben gehalten hat, sage ich jetzt mal. Dem gegenüber stelle ich jetzt mal: Wie lange würde ich vom Arbeitsamt abhängig sein, wenn ich nicht therapiert hätte? Das ist immens von den Kosten her natürlich. Dementsprechend geht es, glaube ich, in dieser Diskussion darum, nicht: Sind die Kosten notwendig? Sondern: Wer soll die Kosten tragen? Ich glaube, das ist so ein großer Punkt.“

„Und das gilt natürlich auch aus der Warte des Klienten, der sich um eine Psychotherapie kümmern will. Zum Beispiel sagen wir: Er möchte Entspannungstechniken sich aneignen. Geht er zur Volkshochschule, zahlt er für den Kurs vielleicht 80 Euro oder so etwas. Geht er zum Heilpraktiker, muss er auch etwas bezahlen. Beantragt er gleich eine Psychotherapie, wird ihm das zum Nulltarif angeboten. Und es hat sich bei Klienten auch so eine Anspruchshaltung breit gemacht: Psychotherapie steht mir zu. Und deswegen würde ich auch darauf drängeln, dass mir das bewilligt wird.“

Heiner Melchinger, der Versorgungsforscher, befürchtet, dass die Patienten mit leichten oder bloßen Befindlichkeits-Störungen die Ressourcen für diejenigen mit den schweren Leiden blockieren.

Der Berliner Psychiater Mazda Adli widerspricht: Eine frühe Diagnose auch leichterer Fälle sei wünschenswert. „Allerdings sind es gerade natürlich auch die etwas milderen Fälle, die bisher ja eher unerkannt geblieben sind, weil Betroffene das nicht als Erkrankung identifiziert haben. Das bringt damit auch einen gestiegenen Bedarf an Behandlung, an psychotherapeutischer Behandlung insbesondere, mit sich. Und damit müssen wir uns jetzt auseinandersetzen.“

Andreas Brock: „Ich weiß noch, damals als Kind, bin ich zum Kinderpsychotherapeuten gegangen, wo ich meinen ersten Selbstmordversuch angekündigt hatte. Ich weiß noch, das war ein Mann und eine Frau, und die haben keinerlei Bedarf für eine Therapie damals festgestellt. Und ich weiß noch, dass ich mir heute immer noch die Frage stelle: Was wäre anders, wenn damals gehandelt worden wäre. Das ist das, was ich im Kopf habe. Wäre ich dann genau da, wo ich jetzt bin?“

via www.deutschlandfunk.de