Nummer 412: Kindheit in der DDR
Im Schlafsaal des Maxim Gorki Kinderheims ist es still. Ein paar Kinder schnarchen und wälzen sich auf ihren Matratzen. Nur Uwe ist schon wach und rollt seinen nassen Bettbezug zu einer Kugel. Vorsichtig schiebt er das dünne Laken unter das klapprige Bettgestell, ganz leise, um die anderen Jungs nicht zu wecken. Seine Mitbewohner dürfen nicht sehen was passiert ist. Sonst petzen sie den Betreuern: „Uwe hat schon wieder ins Bett gepisst!“, und Uwe wird noch kleiner werden, als er ohnehin schon ist. Sonst muss er als Strafe für sie die Toilette schrubben und ihre schmutzige Unterwäsche wegräumen. Wenn er sich wehrt, nur einen einzigen Laut von sich gibt, schlagen sie ihm wieder auf den Kopf und in den Bauch und zwingen ihn vor ihren Hosenschlitzen auf die Knie.
Bald wird es jeden Abend passieren. Sechs Jahre lang.
Immer um punkt acht Uhr, wenn die Betreuer für die Nachtruhe die Türen zu den Zimmern verschließen, kriecht die Angst Uwe hoch. Dann weiß er, dass es für die nächsten Stunden kein Entkommen gibt. Wortlos, fast mechanisch, wird er ins Badezimmer laufen, sich umdrehen müssen und es über sich ergehen lassen. Manchmal sind es die Zwillingsbrüder Jens und Heiko, die den Siebenjährigen zum Oral- und Analverkehr zwingen, manchmal alle acht Mitbewohner nacheinander.
Uwe ist gefangen an einem Ort, der ihn schützen sollte. Weit weg, von seinen alkoholkranken Eltern. Mit seinem Schicksal ist er nicht alleine: In den Kinderheimen der DDR verlieren in den 80er Jahren 120.000 Jungen und Mädchen ihre Kindheit.
Im Maxim-Gorki Kinderheim im sächsischen Weißwasser bestrafen Betreuer mit Schweigen und Gewalt, Kinder missbrauchen andere Kinder. Heute weiß man, dass die meisten Betreuer weder eine pädagogische Ausbildung noch eine spezifische Schulung hatten. Die „Erziehungsinstitutionen“ der DDR wurden nahezu gänzlich sich selbst überlassen, zu diesem Ergebnis kommt auch eine Fallstudie der Aufarbeitungskommission des BMFSFJ. Das Gorki: ein Ort der totalen Kontrolle, ein geschlossenes System in einem geschlossenen System. Ein pädagogisches Niemandsland.
30 Jahre später hat Uwe in eine Kneipe in Tübingen Bilder mitgebracht. Ein Bekannter hat das Heim in Weißwasser besucht und für ihn abfotografiert. Der Ort ist kaum wiederzuerkennen: Die Scheiben des Plattenbaus sind eingeschlagen, kaputte Lampen und Kabel hängen lose von der Decke. Die Wiesen vor dem Betonklotz sind braun gefärbt, kahle, tote Bäume stehen vereinzelt auf dem verlassenen Gelände. Fast nichts erinnert an die Übergriffe, die Schmerzen und das Leid. Heute spricht Uwe über das, was ihm widerfahren ist. Er bricht sein Schweigen, um aufzuklären, in der Hoffnung, dass sich solche Taten nie mehr wiederholen.
„Es ging um Macht“, weiß Uwe Trentsch heute, der seit 2017 den Verein NINO e.V. gegen sexuellen Missbrauch in Freiberg am Neckar leitet. Die anderen Jungs in seinem Zimmer waren älter gewesen, zwischen 13 und 15 Jahre alt und hätten noch kein Mädchen geküsst. Viele von ihnen wurden selbst von Betreuern missbraucht. Ihre Ohnmacht, ihr Gefühl der Hilflosigkeit, ließen sie dann an Uwe aus, der mit seinen sieben Jahren der Neue war. Der Kleinste. Der Schwächste. Der Politologe Christian Sachse beschreibt diese „Anstaltshomosexualität“ als Form der Unterwerfung, wie sie beispielsweise auch in Gefängnissen und Kasernen zu finden ist. Rückblickend sagt Uwe, er wäre das perfekte Opfer gewesen: „ich wusste nicht, wo ich nach Hilfe suchen sollte. Deshalb habe ich nie etwas gesagt.“
Auch Christian Sachse betont, dass es keinen „DDR-Typischen“ sexuellen Missbrauch gegeben hat: Egal ob Ost oder West, sexueller Missbrauch sei überall und in gleicher Form vorzufinden. Der Unterschied liegt in der Behandlung des Themas: die DDR berichtete in den wenigsten Fällen über sexuellen Missbrauch in Kinderheimen. Fast alles wurde „intern geregelt“. Waren staatliche Funktionäre involviert, wurde dies sogar absichtlich vertuscht. Personen, die Vorfälle der Polizei meldeten, wurden abgewiesen. Tätern drohte keine Gefahr, denn in der Regel gab es keine Haftstrafe. Der Staat schwieg.
Das Maxim-Gorki kontrolliert seine Kinder auf Schritt und Tritt. Laut Sachse wurde jeder Besuch, jeder Anruf, jeder Brief, notiert und überwacht. Nicht selten versuchten Kinder nach draußen zu kommunizieren oder aus dem Heim auszubrechen. Wenn ein Betreuer sie dabei erwischte, gab es Sanktionen. Heute weiß man fast nichts über diese Strafen: die Urteile wurden nie veröffentlicht.
Bevor Uwe ins Heim kommt wächst er in Kamenz, einer kleinen Stadt in der Nähe von Dresden auf. An die Zeit bei seiner Familie hat Uwe kaum Erinnerungen: keine Geburtstagsgeschenke, keine Umarmungen, keine Gute-Nacht Geschichten. Die Familientreffen allerdings, sind ihm geblieben. Diese seien immer ausgeartet. Am Ende wären alle völlig betrunken gewesen, hätten sich angeschrien und beschimpft. Freunde wollte Uwe nie zu sich nach Hause einladen. Denn da waren die brüllenden Eltern, der Dreck und die Flaschen.
Von Uwe und seiner fünf Jahre jüngeren Schwester gibt nur ein einziges Foto. Auch heute, in der Kneipe in Tübingen, hat er es dabei. Darauf zu sehen ist ein Junge im Rollkragenpullover und großen runden Augen, seine Hand liegt auf der Schulter seiner Schwester Marlies. Er lächelt verlegen. Ein Lächeln, das täuscht. Denn lange Zeit ahnte keiner, was zuhause hinter verschlossener Tür passierte.
Als Uwe sieben Jahre alt ist holt ihn das Jugendamt ab und bringt ihn ins Maxim-Gorki Kinderheim. Seine Schwester lassen sie zurück. „Auf einmal waren sie einfach da“, sagt Uwe heute. Erst Jahrzehnte später findet er den Grund für seine Heimeinweisung:
Stasi-Akte BSTU 0123
Trentsch, Henry: „labile Person, schlechte häusliche Verhältnisse, starker Trinker, ungenügende Körperhygiene.“
Trentsch, Edeltraud: „feiert Partys, vernachlässigt ihre Kinder.“
Wer neu im Heim ist, bekommt von den Betreuern den Schädel rasiert. Auch Uwe wandert in den ersten Wochen mit kahlgeschorenem Kopf durch die kalten Betongänge. Doch im Gorki verlieren Kinder nicht nur ihre Haare, sondern auch ihren Namen: Die Nummer 412 imprägniert sich in Uwes Erinnerung wie ein Brandzeichen. Überall begegnet sie ihm: in seinen Socken, seinem Unterhemd, auf der Unterseite seiner Schuhe. Das Gorki – sein Eigentümer.
Uwe sucht nie Streit, ist ein zurückhaltender und unauffälliger Junge. Doch wenn die Betreuer morgens seinen Schlafanzug abtasten und das Bett inspizieren, dann zittern Uwes Knie und sein Herz schlägt ihm bis zum Hals. Denn er weiß: Ein kleiner feuchter Fleck reicht und die Betreuer peitschen ihn mit einem nassen Handtuch aus.
Die nächsten sieben Jahre tut Uwe alles dafür, um erst so spät wie möglich am Abend zurück ins Heim zu müssen: Nach dem Unterricht sammelt er Briefmarken in einer Schul-AG, er meldet sich im Fußballclub an, obwohl er Sport hasst. Wie bei vielen traumatisierten Kindern sind auch seine Erinnerungen verschwommen. Heute kann sich Uwe nicht mal mehr an den Speisesaal erinnern. Hat er im Heim jemals gegessen? Hatte er Freunde? Gab es dort Spielsachen? Fragt man Uwe nach seiner Kindheit antwortet er: „Das, was ich weiß, ist ausreichend.“
1989. Die Mauer fällt. Das Gorki muss schließen und Uwe, der damals 16 Jahre alt ist, wird auf die Straße geschmissen. Er flüchtet nach Berlin, kommt dort in besetzten Häusern unter. „Man war halt gegen das System. Ich hätte genauso gut in die rechte Szene abrutschen können“, erzählt Uwe, der damals seine Haare zu einem roten Irokesen geschnitten hatte, Heiter bis wolkig auf seinem Discman hört und Polizeiautos anzündet. Jahrelang gab ihm das Gorki vor, wie er zu leben hat. Doch in der Punkszene, auf dem dreckigen Bürgersteig vor dem Georg-von-Rauchhaus in Berlin, gibt es keine Regeln, keine Vorschriften. Keiner interessierte sich dafür, wo er herkommt oder was seine Geschichte ist. Uwe ist niemand. Und niemand kann keiner verletzen.
Ein Versprechen an seine erste und einzige große Liebe wird ihm das Leben retten.
18 Jahre lang muss Uwe jeden Morgen seine Bettwäsche wechseln. Doch dann lernt er Mareen kennen und plötzlich ist sie verschwunden, die Leere, die Einsamkeit, die Angst vor der Nacht: Sein Laken bleibt trocken. Mit ihr flüchtet er vor dem Leben. Heimlich verabreden sie sich im Wald, am See und in der Kiesgrube. Doch das Leben holt beide ein.
Es ist ein kalter Dezembertag im Jahr 1992. Uwe und Mareen teilen sich einen Schlafsack, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Schneeflocken fallen leise auf das Zeltdach. Draußen im Wald ist es finster. Ihren Taschenlampen ist die Batterie bereits ausgegangen. Hin und wieder hören sie etwas vorbeihoppeln und kriechen, über ihnen knarzen die hohen Baumkronen. Seit zwei Nächten schlafen sie im kniehohen Schnee, reden über Musik, über Freunde und Familie, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft. „Mit der richtigen Person spürt man die Kälte nicht“, erinnert sich Uwe. Von Mareen fühlt er sich verstanden, denn auch ihr Vater ist Alkoholiker. Sie ist die einzige, die von dem Missbrauch weiß.
Vier Jahre sind die beiden ein Paar und Uwe vergisst die Schmerzen, Jens und Heiko, die muffigen Räume und den kalten Betonboden für einen kurzen Augenblick. Doch am Morgen des 3. August 1996 stirbt Mareen durch einen betrunkenen Autofahrer. Es ist Uwes 21. Geburtstag.
Die Tage danach findet sich Uwe immer wieder auf der Kante einer Brücke. Nur einen Schritt nach vorne und der Schmerz wäre Vergangenheit. Doch irgendwas in Uwe lässt ihn umdrehen. Das Versprechen an Mareen niemals aufzugeben, ihre Worte, ihr Gesicht. „Die Brücke steht auch morgen noch“ denkt er sich. Später schreibt er in sein Tagebuch: „Sie haben mir alles genommen. Meine Liebe. Meine Hoffnung. Meine Sehnsüchte. Meine Träume. Alles weg, nichts ist geblieben. Außer meine Angst, die haben sie mir gelassen, die können sie mir nicht nehmen.“
Alkohol und Drogen rührt Uwe nie an. Auch das hatte er Mareen versprochen. Ihr Tod, sagt er heute, verlangte es von ihm. Ein Jahr später beginnt er in der Nähe von Dresden eine Ausbildung als Koch. Uwe ist fleißig und bald arbeitet er in drei Sterne Restaurants in ganz Deutschland, nicht selten 15 Stunden am Tag. „Ich war einer der Küchenchefs, warum die so einen schlechten Ruf haben“, sagt Uwe rückblickend: „es ist einfacher Leute anzuschreien und runterzumachen, als sie an sich ranzulassen.“
Nur wenige Monate nach Mareens Tod lernt Uwe seine erste Ehefrau kennen. Die beiden heiraten und bekommen eine Tochter. „Ich wollte einfach nicht alleine sein, deshalb habe ich schnell und ohne nachzudenken ja zum Heiraten gesagt“ sagt Uwe heute. Noch bevor seine Tochter Tessa ein Jahr alt ist haut er ab, taucht in Baden-Württemberg unter.
Aus der Presse und den Geschichten anderer Opfer weiß er, dass viele Betroffene irgendwann selbst zum Täter werden: „Ich dachte damals, wenn ich mein Kind schützen will, dann muss ich gehen.“ Also verlässt er wenige Jahre später auch seine zweite Ehefrau und seine Zwillingstöchter Lucy und Emily. Uwe hinterlässt keinen Brief, keine Nummer, keine Adresse. Als wäre er nie da gewesen.
„Ich war nicht gewohnt, dass Leute bei mir bleiben. Früher oder später wird man enttäuscht, verlassen oder jemand stirbt“, sagt Uwe. Zu dem Zeitpunkt steht er wieder jeden Tag auf der Brücke: „Ich hatte nichts mehr zu leben. Keine Freunde, keine Familie.“ Während er in den Abgrund blickt denkt er an seine Kinder und an Mareen und stellt sich die Frage: Springe ich, damit meine Kinder zumindest die Rente bekommen? Oder mache ich gut, was ich verbockt habe?
Uwe entscheidet sich für Therapie. Neun Wochen Klinikaufenthalt, Meditationsübungen, und Gespräche mit Menschen, die ähnliches durchgemacht haben, geben ihm Kraft. Dort lernt er sich bei Flashbacks an einen Safe Space zu flüchten – einem gedanklichen Ort, wo er sich geborgen fühlt. Für Uwe ist das seine Rolle als Küchenchef. Während seiner Therapie merkt er schnell, dass manche Patienten bereits zum 3. Mal die Klinik besuchen. Einige von ihnen mussten bis zu zwei Jahre warten, um einen Platz zu bekommen. Uwe fasst einen Entschluss: wenn er draußen ist, dann gründet er eine Selbsthilfegruppe. Und zwar für jeden – ohne Kosten, ohne Wartezeit.
Winter 2019, in einem Kaufland in Stuttgart. Uwe steht vor einem Käseregal, kalte Luft bläst aus der Kühlung. „Hast du die Milch geholt?“ raunt ein Mann neben ihm. Die Frau blickt auf den Boden und schüttelt ihren Kopf. „Dich kann man nicht schicken! Bleib hier“, knurrt er und dreht sich um. Die Frau knetet ihre Hände und spielt an ihrem Reißverschluss. Uwe zieht eine Karte aus seiner Hosentasche, darauf eine Hilfenummer für häusliche Gewalt, und drückt sie der Frau wortlos in die Hand. Sie blickt ihn an und steckt die Karte wortlos in ihre Jackentasche.
Die Rückrufquote sei erstaunlich hoch, sagt Uwe. Noch keine Frau hätte ihm die Karte zurückgegeben.
Wenige Monate später im Frühling 2020: 00.00 Uhr, Schichtbeginn. Während Corona arbeitet Uwe als Sicherheitswachmann in einem Krankenhaus in Stuttgart. Unter seiner Security Jacke trägt er ein schwarzes B.A.C.A T-shirt: Bikers Against Child Abuse. Auf seinem rechten Oberarm ein Tattoo mit zwei Füchsen und den Worten: „What happens behind closed doors“. Während die Nadel auf Uwes Haut einsticht, weint er. Nicht aus Schmerz, sondern aus Trauer. Aus Wut. Dass ihm das Leben ständig das nimmt, was er liebt.
Uwe weiß, dass Corona viele Türen verschlossen hat. Auch sein Verein hat wegen der Infektionsauflagen geschlossen. Trotzdem ist er weiterhin rund um die Uhr auf seinem Handy für Betroffene* erreichbar. Seine Beratungen, die stundenlangen Telefonate, das alles macht er ehrenamtlich.
Seit 2018 ist Uwe Burnout Berater, Trainer für Kindeswohlschulungen und Gastdozent an der Duale Hochschule Baden-Württemberg. Der Weg dorthin war nicht leicht. Uwe sagt, er wäre noch lange nicht am Ziel. Doch er läuft in die richtige Richtung. Immer vorwärts. Ausschlaggebend war, dass er Hilfe von außen angenommen hat und sich auch heute noch helfen lässt: „Ich brauche keinen Psychiater, der mich mit Samthandschuhen anfasst. Ich möchte einen, bei dem ich jedes Mal rauskomme und mir denke: So ein Arschloch! Nur dann lernt man doch was?“
Bis vor fünf Jahren konnte Uwe nicht Geburtstag feiern. Mareens Todestag schwebt jedes Jahr erneut über ihm wie eine Gewitterwolke. Heute, 24 Jahre später, lädt er wieder Freunde zu sich in die Wohnung in Stuttgart ein. Früh morgens, gleich nach dem Aufstehen, ist er traurig. Doch dann nimmt der Küchenchef Uwe den kleinen Uwe an die Hand und sagt: „Komm Kleener, alles wird gut.“