Reportage | Elena Matera

Litauische Schützenunion: Angst, die nächsten zu sein

Das Gewehr in der Hand, einatmen, ausatmen - bloß ruhig bleiben. Die feindliche Gruppe greift an. "Zurückziehen, los!", brüllt einer der Männer in olivfarbener Tarnkleidung auf Litauisch. Er springt vom Boden auf, sprintet in den Wald und ist nur wenige Sekunden später zwischen den Bäumen verschwunden.

Das Gewehr in der Hand, einatmen, ausatmen – bloß ruhig bleiben. Die feindliche Gruppe greift an. „Zurückziehen, los!“, brüllt einer der Männer in olivfarbener Tarnkleidung auf Litauisch. Er springt vom Boden auf, sprintet in den Wald und ist nur wenige Sekunden später zwischen den Bäumen verschwunden. Die anderen Männer bleiben flach auf dem steinigen Waldweg liegen, geben Deckung. Über ihnen zieht sich der Himmel zu. „Bam bam bam“, ruft einer, steht auf, das Gewehr fest in der rechten Hand und folgt seinem Vorgänger in den Wald. Einer nach dem anderen kann sich so vor dem Feind zurückziehen.

 

Das Ganze ist eine Übung der Fortgeschrittenen-Gruppe der Litauischen Schützenunion Šauliai, einer paramilitärischen Organisation. Die Gewehre sind aus Plastik, das „Bam bam bam“ der Männer soll die Schüsse imitieren – eigentlich harmlos. Und doch löst das Training beim Zuschauen ein ungutes Gefühl aus. Denn die Menschen trainieren an diesem bewölkten Maitag in einem litauischen Waldstück nahe der belarussischen Grenze für den Ernstfall – und der hat sich schon lange nicht mehr so nah angefühlt wie in diesen Tagen: Jewgeni Fjodorow, Abgeordneter von Putins Partei Einiges Russland, hat diese Woche einen Gesetzentwurf in die Duma eingebracht, mit dem die Anerkennung der Unabhängigkeit 1991 durch die Sowjetunion für illegal erklärt werden soll.

 

Die Menschen in Litauen blicken aber schon länger besorgt in Richtung . Viele befürchten: Wenn die Ukraine fällt, könnten sie die Nächsten sein. Immer mehr Litauerinnen und Litauer wollen daher das Kämpfen lernen. Die litauische Armee, aber vor allem die staatlich unterstützte Schützenunion sprechen von einem enormen Mitgliederzuwachs in den vergangenen Monaten. Insgesamt sei hier die Mitgliederzahl seit Kriegsbeginn um 40 Prozent angestiegen, von 10.000 auf mehr als 14.000 Mitglieder, Stand: 2. Juni. Täglich würden neue hinzukommen, teilt die Schützenunion mit. Bereits mit elf Jahren können Litauerinnen den jungen Schützen beitreten. Ab 18 leisten sie einen Schwur, bereiten sich auf den bewaffneten und unbewaffneten Widerstand vor.

 

Die 1919 gegründete Organisation ist nicht unumstritten. So sollen im Zweiten Weltkrieg einzelne Mitglieder der Schützenunion mit den Nazis zusammengearbeitet haben. Nach dem Anschluss Litauens an die UdSSR kämpften viele Schützen als Partisanen gegen das Sowjetregime. Und dann, nach der Unabhängigkeitserklärung Litauens 1990, wurde die Organisation wiederhergestellt. Einen solchen Mitgliederzuwachs wie zurzeit hat es aber lange nicht mehr gegeben.

 

Einer der Neuen ist Rimas Vanagas, eingetreten im März. Eigentlich heißt er anders. Doch mit seinen Aussagen befürchtet er, auf einer Liste der russischen Regierung zu landen. Dann wären er und seine Familie in Gefahr. Normalerweise sitzt der Ingenieur in einem Büro in Vilnius. Heute steht der 42-jährige Familienvater sichtlich stolz in seiner Tarnkleidung und dem vollgepackten roten Rucksack am Rande des Waldes auf einer schmalen Straße, eine Stunde Autofahrt von Vilnius entfernt. Auf seinem rechten Ärmel ist die litauische Flagge eingenäht: Gelb, Grün, Rot.

 

Es ist später Nachmittag. Während die fortgeschrittenen Schützen weiter den Rückzug üben, bespricht sich Vanagas wenige Hundert Meter entfernt mit seinen drei Teammitgliedern. Für die mehr als 100 Neuen, die in Vilnius bei der Schützenunion eingetreten sind, geht es an diesem Tag um die Orientierung im Wald. Das Training ist nach den vielen Theoriestunden ihre erste praktische Übung. In kleinen Gruppen müssen sie mit einer Landkarte und einem Kompass verschiedene Standorte anhand von Koordinaten im Wald finden – eine Art Schnitzeljagd, die bis morgens um acht Uhr dauert. Geschlafen wird nicht.

 

Fast jedes Wochenende im April und Mai hatte Vanagas Trainingseinheiten und jetzt eben die Nacht im Wald – ohne Schlaf. Und Regen ist auch vorhergesagt. Warum macht er das freiwillig? „Weil ich es muss, für die Zukunft meiner Kinder“, sagt Vanagas mit fester Stimme, während er mit seiner Gruppe in den Wald hineinläuft. Er hält den Kompass fest in der rechten Hand. Sein Teamkollege blickt auf die Landkarte, zeigt geradeaus. „Da lang“, sagt er.

via www.zeit.de