Artikel | Elena Matera

Klimaneutrale Wüstenstädte: Zukunft oder Größenwahn?

In Saudi-Arabien entsteht mit "The Line" eine klimaneutrale Planstadt mitten in der Wüste - kann das funktionieren?

In der Stadt der Zukunft gibt es keine Straßen und keine Autos. Wohnungen, Arbeitsplätze, Parks, Fußgängerzonen und Schulen sind vertikal übereinandergeschichtet und in einzelnen modularen Gemeinschaften organisiert. Alles, was die Bewohner brauchen, ist in fünf Gehminuten erreichbar. Über den Köpfen surren Drohnen und Flugtaxis umher. Unter den Füßen rasen Hochgeschwindigkeitszüge von einem Ende der Stadt zum anderen. Die Energie- und Wasserversorgung ist vollständig erneuerbar dank Windparks und Solarpanelen.

Noch ist „The Line“ eine Zukunftsvision, eine Utopie des saudischen Kronprinzen und Premierministers Mohammed bin Salman, die in zahlreichen Imagevideos öffentlichkeitswirksam vermarktet wird. Die hochverdichtete Planstadt soll sich in nicht allzu ferner Zukunft als spiegelverkleidete Linie von der Küste des Roten Meers durch die Arabische Wüste bis ins Gebirge ziehen: 170 Kilometer lang, 200 Meter breit und 500 Meter hoch. Und während in Dubai auf der 28. Weltklimakonferenz noch über die Zukunft des Planeten diskutiert wird, werden im Nachbarland bereits erste Gruben ausgehoben, Rohre verlegt und Fundamente gegossen. Das futuristische Projekt soll eine Antwort auf den Klimawandel und die Überbevölkerung sein. Ein Meilenstein in der Zukunftsplanung des Landes für die Ära nach der Ölförderung.

Die Stadt, die nur zwei Prozent der Fläche herkömmlich gewachsener Großstädte einnehmen und trotzdem neun Millionen Menschen Platz bieten soll, ist eine von vier geplanten Maßnahmen innerhalb des Siedlungsprojekts NEOM. Der Name ist ein Kofferwort und setzt sich zusammen aus „neo“ (altgriechisch für „neu“) und dem Buchstaben „m“ (Anfang des arabischen Wortes „mustaqbal“, was so viel heißt wie „Zukunft“). Auf einer Fläche fast so groß wie Belgien entstehen neben „The Line“ noch ein luxuriöses Inselreiseziel im Roten Meer („Sindalah“), eine Industrie- und Hafenstadt, in der bis 2030 rund 90 000 Einwohner leben sollen, („Oxagon“) und eine Gebirgsstadt mit Ski-Resort („Trojena“). Das Ganze ist Teil des saudischen Zukunftsplans Vision 2030, mit dem Kronprinz bin Salman die Transformation des Landes in ein postfossiles Zeitalter einleiten will. Bis 2060 soll Saudi-Arabien klimaneutral sein.

Der Traum, eine nachhaltige Stadt mitten in die Wüste zu bauen, ist nicht neu. Bereits 2006 hat Masdar, ein Unternehmen für erneuerbare Energien aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, damit begonnen, die so genannte Masdar City in der Nähe von Abu Dhabi zu planen und zu bauen. Der Vorsitzende von Masdar ist kein geringerer als Sultan Ahmed Al Jaber, der Präsident der 28. Weltklimakonferenz. Masdar City sollte die erste CO 2-neutrale, autofreie Ökostadt der Welt mit bis zu 40 000 Einwohnern werden – so lautete zumindest der Plan.

Doch die Arbeiten an Masdar City sind auch im Jahr 2023 noch nicht vollständig abgeschlossen, die Nachhaltigkeitsziele wurden mittlerweile zurückgeschraubt. Masdar City gilt jetzt nur noch als kohlenstoffarm, nicht mehr als kohlenstofffrei.

Die 28. Weltklimakonferenz (COP28)Vom 30. November bis zum 12. Dezember 2023 treffen sich die Vertreter von Regierungen, Unternehmen und NGOs in Dubai, um zum 28. Mal über den Klimaschutz zu beraten. Alle Infos zur Konferenz finden Sie in unserem Blog und auf unserer Themenseite.

Viele bezeichnen das Projekt inzwischen als gescheitert. Alexander Rieck, leitender Wissenschaftler am Fraunhofer-Institut für Arbeitswelt und Organisation (IAO) in Stuttgart und Mitgründer des internationalen Architekturbüros LAVA, sieht das anders. Sein Team von LAVA hat das Zentrum von Masdar City geplant und das Fraunhofer IAO war in begleitende Forschungsprojekte involviert. „Aus der Sicht eines Immobilienentwicklers ist Masdar City sicherlich kein erfolgreiches Projekt. Doch durch die Brille eines Wissenschaftlers ist es eines der erfolgreichsten Experimente der letzten Jahre, denn wir lernen gerade aus Projekten, die nicht auf Anhieb funktionieren“, sagt Rieck.

So viele Einwohner wie London | Neun Millionen Menschen sollen einmal in „The Line“ wohnen, leben und arbeiten – klar braucht es da ein schwebendes Fußballstadion.

Zum ersten Mal habe man nachhaltige und autonome Mobilität, die Versorgung mit erneuerbaren Energien sowie eine Kreislaufwirtschaft, in der Materialien und Ressourcen so lange wie möglich genutzt werden können, in einer Stadt zusammengedacht. „Deshalb waren wir auch von der Fraunhofer-Gesellschaft mit einigen Projekten vor Ort. Wir haben ziemlich viele Erkenntnisse sammeln können, die bereits in Forschung für bestehende Städte eingeflossen sind“, sagt der Wissenschaftler. Seit 2019 arbeitet LAVA zudem an verschiedenen Projekten für NEOM, unter anderem an der Planung und Architektur der geplanten Gebirgsregion Trojena.

Neue Lösungen in Zeiten des Klimawandels

NEOM hebt die Idee einer klimaneutralen Stadt auf ein neues Level. Schätzungen gehen davon aus, dass das Gesamtprojekt mehr als 500 Milliarden Dollar kosten wird. Bis 2045 sollen allein in „The Line“ so viele Menschen leben wie in London oder New York.

Doch warum wird eine solche Stadt ausgerechnet mitten in die Wüste gebaut? Schon heute gilt der Nahe Osten als eine der am stärksten von der Klimakrise betroffenen Regionen der Welt. Seit 1970 hat sich die Anzahl der Hitzetage und Tropennächte in der Region verdoppelt, zeigt eine Studie, die 2016 im Fachmagazin „Climatic Change“ veröffentlicht wurde. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Menschen in Saudi-Arabien rasant zu.

„Mit den veralteten Strukturen bisheriger Städte lassen sich die Probleme von morgen nicht mehr lösen. NEOM schafft hier die Freiräume, eine Stadt anders und integrativer zu entwickeln“Alexander Rieck, Architekt und Forscher am Fraunhofer IAO

„Auch Saudi-Arabien denkt über neue Lösungen in Zeiten des Klimawandels nach. Es müssen neue Räume für die rasch wachsende Bevölkerung geschaffen werden“, sagt Alexander Rieck. Zudem lägen einige der saudischen Großstädte schon heute in sehr heißen Zonen, die durch die Erderwärmung noch unwirtlicher werden. „Mit den veralteten Strukturen bisheriger Städte lassen sich die Probleme von morgen nicht mehr lösen. NEOM schafft hier die Freiräume, eine Stadt anders und integrativer zu entwickeln“, sagt Rieck. „Im Nordwesten des Landes, wo NEOM gebaut wird, ist es kühler als etwa in der Hauptstadt Riad. Außerdem ist die Region attraktiv, da sie nah an Europa liegt.“

Christine Lemaitre, Bauingenieurin und Geschäftsführerin der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen, sieht das ganze Projekt sehr kritisch. „An einer Stadt, die auf nachhaltige Mobilität, eine funktionierende Kreislaufwirtschaft und auf erneuerbare Energien setzt, ist erst einmal nichts auszusetzen“, sagt Lemaitre. „Es klingt wie eine schöne Zukunfts-Utopie, aber letztlich sprechen wir über Konzepte, die weit entfernt sind von klimaangepasstem Bauen.“

Der gigantische Ressourcenaufwand ist nicht nachhaltig

Allein der Ressourcenaufwand, der nötig ist, um eine Stadt in diesem Ausmaß in die Wüste zu bauen, sei alles andere als nachhaltig, sagt Lemaitre. Zwar werde derzeit ein Stahlwerk in der Region gebaut, das eines Tages CO 2-neutralen Stahl produzieren soll. „Das muss allerdings erst einmal hochgezogen werden“, sagt Lemaitre. Das Gleiche gelte für die zahlreichen Fotovoltaikanlagen und Windräder, die errichtet werden sollen.

Gestapelte Würfelsegmente | So sieht „The Line“ von innen aus.

Auch in der Gebirgsregion Trojena mit dem geplanten Ski-Resort stellt sich die Nachhaltigkeitsfrage. In Saudi-Arabien fällt in einer Höhe von bis zu 2600 Metern zwar Schnee, doch selbst auf der Website von NEOM wird nicht verschwiegen, dass die Pisten zusätzlich mit Kunstschnee präpariert werden müssen. Das verschlingt enorme Mengen Energie und verbraucht sehr viel Wasser. Zwar werden mittlerweile auch zahlreiche Pisten in Österreich und Deutschland beschneit – das wird hier zu Lande aber ebenfalls zunehmend kritisch gesehen.

Fest steht laut Christine Lemaitre, dass es wichtig ist, über Ressourcen und Energie sparendes Bauen und Wohnen nachzudenken. „Die Weltbevölkerung wächst. Der Bedarf an neuem Wohnraum ist da. Doch ich glaube, wir haben im Jahr 2023 eine andere Verantwortung, schließlich erleben wir alle den Klimawandel“, sagt sie. In Deutschland schaue man daher gerade in heißere Länder wie Spanien oder auch in den Nahen Osten, um zu lernen, wie man Städte auf natürliche Weise abkühlen kann.

Besser: Traditionelle Lehmbauten

Traditionelle Lehmhäuser zeigen, wie das funktioniert, denn sie haben einen natürlichen Kühleffekt. Im Iran stehen etwa die ältesten Klimaanlagen der Welt: Lehmbauten mit hohen Türmen, die über den Kamineffekt die Gebäude gut durchlüften und kühlen.

„Eine Wüstenstadt, von der andere Städte vieles lernen können, ist Shibam im Jemen“, sagt Philip Oldfield, Architekturprofessor an der University of New South Wales in Sydney, der zu nachhaltiger Stadtentwicklung forscht. Shibam besteht aus mehrstöckigen Gebäuden, die vor 500 Jahren aus Lehmziegeln gebaut wurden. Die Gebäude stehen dicht beieinander, um Schatten zu spenden. Die Fenster sind klein, um unerwünschte Sonnenwärme zu reduzieren, die Wände dick, um vor der Hitze zu schützen. Insgesamt leben dort etwa 7000 Menschen.

„Es ist ein politisches Statement, um technologisches Können und Ehrgeiz zu demonstrieren – kein Design, das sich auf die Schaffung einer klimaneutralen Lösung konzentriert“Philip Oldfield, Professor für Architektur“Man wirft all diese Erkenntnisse, die man über die Jahre in ebendiesen Klimazonen gesammelt hat, über den Haufen. Stattdessen baut man nun eine riesige Stahlglas-Beton-Architektur mitten in die Wüste – das ist absurd“, sagt Christine Lemaitre. Solch ein Gebäude heize sich extrem schnell auf und sei nur mit Klimaanlagen überhaupt bewohnbar. „Stellt man die Klimaanlagen ab, ergeben sich nach nur wenigen Stunden erhebliche Gesundheitsrisiken“, sagt Lemaitre. „Das Fatale ist, dass die Berater von NEOM vor allem aus den USA und aus Europa kommen und es besser wissen müssten.“

Auch einige deutsche Unternehmen und Berater sind an NEOM beteiligt, so etwa die Thyssenkrupp-Tochter Nucera, die dort eine Wasserelektrolyse-Anlage installieren wird. Mehr als 650 Tonnen grüner Wasserstoff sollen pro Tag produziert werden. Der werde dann in mehr als 3500 Tonnen Ammoniak pro Tag umgewandelt, heißt es von Seiten der Firma. Warum das deutsche Unternehmen mit NEOM zusammenarbeite? Es wolle einen Beitrag „zum globalen Markthochlauf von grünem Wasserstoff leisten und damit auch zum weltweiten Klimaschutz“, antwortet eine Sprecherin des Unternehmens auf Nachfrage von „Spektrum.de“.

Für den Betrieb des Elektrolyseurs soll Ökostrom aus Solar- und Windkraftanlagen verwendet werden. Das Wasser wird unter anderem direkt aus dem Roten Meer entnommen, entsalzt und entmineralisiert. Dafür ist laut den Projektverantwortlichen von NEOM eine neue Anlage für Meerwasseraufbereitung mit Ressourcenrückgewinnung geplant. Dies sei „eine Weltneuheit in diesem Umfang“.

Eine weitere deutsche Firma, die an NEOM beteiligt ist, ist das Luftfahrtunternehmen Volocopter, das elektrische Flugtaxis entwickelt. „Wir werden die einmalige Gelegenheit haben, Lufttaxis in einer völlig neu konzipierten Stadt zu denken und einzusetzen“, äußert sich Volocopter schriftlich zu der Kooperation mit NEOM. Dies könne dabei helfen, zu definieren, wo Lufttaxis den besten Nutzen etwa in neu gebauten Stadtteilen bringen können.

Neom – Die Ökostadt der Zukunft

„Es ist sehr ungewöhnlich, dass man die Möglichkeit erhält, mit einigen der innovativsten Köpfe der Welt eine Stadt der Zukunft zu planen und einen Prototyp für ein nachhaltiges Leben zu bauen“, schreibt ein Sprecher von Volocopter. “Der Enthusiasmus, den wir für neue Technologien sehen, kombiniert mit den notwendigen finanziellen Mitteln, um sie in die Realität umzusetzen, ist selten. Wir glauben, dass die Erkenntnisse, die Volocopter und die Lufttaxi-Industrie aus diesem Projekt ziehen können, wertvoll sind, um die Entwicklung der modernen Mobilität weiter voranzutreiben.“

Zukunftstechnologien, die auch für andere Städte interessant sind

Eine Anlage für Meerwasseraufbereitung, neue Mobilitätskonzepte, neue Wege der Ressourcennutzung und -rückgewinnung, Flugtaxis, eine der größten Anlagen für grünen Wasserstoff – in NEOM werden Zukunftstechnologien entwickelt, die auch für andere Städte interessant sein könnten, davon ist Architekt Alexander Rieck überzeugt. Architekturprofessor Philip Oldfield sieht hier ebenfalls eine Chance. „Das Ausmaß des Baus könnte neue Industriezweige wie die Herstellung von kohlenstoffarmem Stahl unter Verwendung von Wasserstoff fördern, von denen auch herkömmliche Städte profitieren könnten“, sagt er.

„Es ist ein politisches Statement, um technologisches Können und Ehrgeiz zu demonstrieren – kein Design, das sich auf die Schaffung einer klimaneutralen Lösung konzentriert“Philip Oldfield, Professor für Architektur

Dennoch äußert auch Oldfield Kritik am Projekt NEOM. Im Moment sei es praktisch unmöglich, eine völlig kohlenstoffneutrale Stadt zu bauen. Gebäude trügen allein auf Grund ihrer Materialien und der Errichtung zu den Treibhausgasemissionen bei. Für NEOM habe er berechnet, dass dadurch bereits im Vorfeld 1,8 Milliarden Tonnen CO 2 verursacht würden. „Das ist mehr als das 2,5-Fache der jährlichen Emissionen Deutschlands“, sagt der Architekturprofessor.

Wie könnte eine ideale klimafreundliche Stadt der Zukunft stattdessen aussehen? Oldfields Rezept: Man solle kompakt und nicht zu hoch bauen, sechs bis zehn Stockwerke seien ideal. Man solle lokale Materialien und Bio-Baustoffe wie Holz und Stroh nutzen, für viel Schatten sorgen und nicht zu viel Glas verwenden. Wichtig seien auch ein verlässlicher, gut funktionierender öffentlicher Nahverkehr und die Energieerzeugung etwa mit Hilfe von Fotovoltaikanlagen. „All das kann die Kohlenstoffemissionen verringern – aber es ist derzeit unmöglich, eine komplett klimaneutrale Stadt zu bauen“, sagt Oldfield.

Das Problem an „The Line“: Die Stadt sei viel zu hoch, habe weite, ausgedehnte Räume und futuristische Ideen, wie ein in der Höhe schwebendes Stadion. „Meiner Ansicht nach geht es bei der Gestaltung von ›The Line‹ nicht darum, ein kohlenstoffarmes Gebäude zu errichten. Es ist ein politisches Statement, um technologisches Können und Ehrgeiz zu demonstrieren – kein Design, das sich auf die Schaffung einer klimaneutralen Lösung konzentriert“, sagt Oldfield.

Und überhaupt bleiben viele Fragen offen: Welche Auswirkungen hat eine 170 Kilometer lange und 500 Meter hohe, verspiegelte Mauer für die Tier- und Pflanzenwelt in der Region? Wird das Projekt so realisiert, wie es derzeit geplant ist? Und wer wird in „The Line“ wohnen wollen? Bereits im Jahr 2024 soll es zumindest auf die letzte Frage erste Antworten geben – dann nämlich werden die ersten Menschen nach NEOM kommen und Urlaub machen auf der Luxus-Insel „Sindalah“.

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Die Wissenschaftsjournalistin lebt in Berlin und schreibt vor allem über Themen aus den Bereichen Klima, Gesellschaft und Technologie.

 

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via www.spektrum.de