Jung und verschuldet
Schuldenatlas: Jeder siebte Mensch unter 30 ist überschuldet.
Lillys
Stimme zittert, wenn sie erzählt, wie stark sie sich zeitweise
eingeschränkt hat: Nichts, was Geld kostete, konnte sie sich erlauben.
Die Freunde wollen ins Kino? Viel zu teuer. Ein Falafel-Sandwich und ein
Ayran für drei Euro? Zu Hause ist noch trockener Toast im Regal. Die
Jacke ist kaputt? Wenn sie die Ärmel umschlägt, sieht man die Löcher
nicht.
Sie war ja froh, dass
sie überhaupt noch für ihre Freunde auf dem Telefon erreichbar war. Weil
sie die 20 Euro für den Handyvertrag im Monat gerade so aufbringen
konnte. „Ich habe überhaupt nicht mehr am sozialen Leben teilgenommen“,
sagt sie heute. 29 ist Lilly jetzt. Und während Gleichaltrige Partys
gefeiert haben oder auf Spontantrips nach Warschau oder Porto fuhren,
hat sie ihre kompletten Mittzwanziger völlig asketisch gelebt. Alles
wegen der Schulden. Sie muss zwei Minuten aussetzen, um weiter sprechen
zu können.
10.000
Euro waren es mal, der größte Batzen davon ist ihr Bildungskredit für
ein Designstudium an einer privaten Akademie. Mit Anfang 20 hat sie das
angefangen, nach einer handwerklichen Ausbildung. Die Studiengebühren
sind so hoch wie ihre monatliche Miete. Das schafft sie nicht mal mit
Nebenjobs, merkt sie nach einem Jahr. Sie erwägt, abzubrechen, auch weil
sie von der Qualität der Ausbildung der Akademie enttäuscht ist. Aber
ohne Abschluss will sie eigentlich auch nicht da stehen. Was also tun?
Im
Vergleich zum vergangenen Jahr ist der Anteil der unter 30-Jährigen mit
Schulden zwar deutlich gesunken, vor allem die extremen Fälle gehen
zurück. Laut Schuldneratlas
liegt die Schuldnerquote bei jungen Menschen trotzdem über dem
Bundesdurchschnitt. Explizite Statistiken zur Überschuldung wegen
Studienfinanzierung gibt es nicht. In den Aufzeichnungen der
Schuldnerhilfen fällt das unter die Rubrik „Ratenkredite bei Banken“.
Etwas mehr als zehn Prozent der beratenen Personen unter 25 haben solche
Schulden bei der Bank. Und es ist zwar nicht die Regel, aber die
Rückzahlung der Studienkredite ist immer wieder Thema, berichtet
Franziska Matschke von der Schuldnerhilfe Köln e.V.: „Das Bittere daran
ist, dass man schon so hoch überschuldet ist, bevor man überhaupt
begonnen hat, eigenes Einkommen zu verdienen.“
Lilly entscheidet sich
fürs Weiterstudieren, auch weil die Eltern ihr ins Gewissen reden: „Ein
Abbruch macht keinen guten Eindruck“, warnt die Mutter. Also nimmt
Lilly einen Studienkredit auf, um die verbleibenden zwei Jahre zu
bezahlen. Kurz darauf stirbt ihre Mutter überraschend. Da ist Lilly 24.
„Trennung, Scheidung,
Tod“ heißt die dazu passende Rubrik in der Welt der
Schuldnerstatistiken. Solche Schicksalsschläge sind der dritthäufigste
Auslöser für Überschuldung. Häufiger noch sind Arbeitslosigkeit und
Erkrankungen. Beides ereilt Lilly ebenfalls. Denn während sie das Studium irgendwie durchprügelt, sterben zwei weitere enge Freunde. „Immer, wenn
ich mich gerade halbwegs damit abgefunden hatte, dass ein mir
nahestehender Mensch tot ist und nicht wiederkommt, ging der nächste“,
sagt sie.
Lilly bekommt schwere
Depressionen und traut sich nicht mehr aus dem Haus. Es ist fast ein
Automatismus bei Menschen, die überschuldet sind: 80 Prozent werden
krank. Wie soll Lilly arbeiten, wenn sie das Gefühl hat, in der Welt da
draußen ohnehin zu versagen? Und von dieser Welt alle 15 Monate einen
Schlag verpasst zu bekommen? Trotz Hartz IV versucht sie weiter, die
Schulden so schnell wie möglich zu tilgen. Und spart sich eisern
monatlich 150 Euro oder mehr vom Mund ab. „Ich hatte das Gefühl, ich
muss so viel wie möglich machen, um die Schulden loszuwerden.“ Erst nach
einer langen Therapie lernt Lilly, dass es ihre Gesundheit noch
zusätzlich verschlechtert, wenn sie sich unter ihr Existenzminimum
spart. Eine Aussage, die auch Franziska Matschke bei der Schuldnerhilfe
Köln bestätigt: „Jemand, der am Existenzminimum lebt, der kann und
sollte auch vorerst keine Schulden abbezahlen.“ Lilly hat dennoch Glück,
denn sie ist noch „weich“ überschuldet. So nennt der Schuldneratlas vor
allem die Fälle, in denen die Schulden noch nicht vor Gericht gelandet
sind. Das liegt aber auch daran, dass sie sich konsequent um jede
Forderung kümmert und Stundungen oder kleinere Raten aushandelt. 8.500
Euro stehen noch aus, die kleineren Rechnungen, die sie zeitweise nicht
zahlen konnte, hat Lilly überwiegend abgestottert, wann immer sie ein
paar Euro übrig hatte.
Anders
geht das Sebastian, 30. Er beginnt gerade erst seinen Schuldenberg
abzutragen. Und wird einem gerichtlichen Verfahren nicht mehr entgehen
können. „Ich wollte es erst lange nicht wahrhaben”, sagt er. Seine
Schuldnerkarriere ist die klassische unter jungen Leuten.
„Unwirtschaftliche Haushaltsführung“ nennt der Schuldneratlas das etwas
hölzern. Und auch dieser Auslöser für Überschuldung ist einer der „Big
Five“. Bei jungen Menschen hat er im Vergleich zum vergangenen Jahr
wieder zugenommen. Oft beginnt es mit dem Handyvertrag. Der neue bringt
ja das bessere Telefon mit sich. Ist doch egal, ob der andere noch
läuft. Zwei Drittel aller jungen Schuldner haben offene Rechnungen bei
Telefonanbietern. Auch die Bank macht es Sebastian einfach, Geld
auszugeben, das er gar nicht hat. Auf dem neu eröffneten Konto gewährt
sie einen Dispokredit von 400 Euro, obwohl er damals mit 18 nur 200 Euro
Ausbildungsvergütung bekommt. Das ist nicht viel, aber mit dem Dispo
geht gleich eine ganze Menge mehr. Mehr Disko, mehr Bier, mehr
Klamotten. Und während sich Sebastian in die Schulden wurschtelt, indem
er neue Löcher reißt, um andere zu stopfen, verpasst er auch noch, das
Erbe der Oma auszuschlagen. Sechs Wochen hätte er dafür gehabt. Sein
leiblicher Vater, den Sebastian nur „Erzeuger“ nennt, ist schlauer,
enthält ihm aber vor, dass die Konten der Oma alle überzogen sind. Und
so erbt Sebastian weitere 25.000 Euro Schulden. Wie viele es
mittlerweile insgesamt sind, weiß er nicht: „30.000? Vielleicht
35.000?“, schätzt er.
Gerade bereitet er sich auf die gerichtliche Lösung vor.
„Das
ist das letzte Mittel“, sagt Franziska Matschke von der Schuldnerhilfe.
Sebastian aber fühlt sich erleichtert nach den Jahren des
Runterwirtschaftens. Weil endlich eine Ende absehbar ist. „Man kann
nicht wie ein normaler Mensch leben mit Schulden“, sagt er.„Die Schulden
sind immer im Hinterkopf. Man traut sich nicht mehr Briefe zu öffnen.
Und wenn man eine Freundin sucht, kann man ja schlecht beim Kennenlernen
sagen ‚Du zahlst!‘ Das wirkt irgendwie nicht erwachsen.“
Schuldnerberatungen können umso mehr erreichen, je früher sich verschuldete Menschen melden
Die
Geschichten hinter den jungen Menschen im Minus sind immer
individuelle. Aber alle berichten, dass sie sich eben genau so fühlen:
wie Minusmenschen. Die sich für ihre Misere schämen.
Franziska Matschke
vermutet, dass auch deswegen viele Menschen erst Hilfe suchen, wenn die
Probleme schon extrem sind. In den meisten Fällen könnten
Schuldnerberatungen umso mehr erreichen, je früher sich verschuldete
Menschen melden, sagt sie. Wichtig sei nur, dass die Beratung nicht aus
kommerziellen Interessen erfolge, sondern bei gemeinnützigen
Einrichtungen. Mit Angeboten wie einer anonymen Telefonhotline versucht
die Schuldnerhilfe die Hemmschwelle zu senken. Denn es gibt viele
Möglichkeiten zwischen überzogenem Dispo und der letzten Ausfahrt
Verbraucherinsolvenz.
Selbst
kurz davor gibt es noch Möglichkeiten, die Insolvenz zu verhindern. Bei
einer Insolvenz würden nach sechs Jahren alle nicht abgetragenen
Schulden erlassen. Sebastian hat gerade Arbeit, deswegen hat er seinen
etwa 20 Gläubigern ein Angebot gemacht: Bevor sie vielleicht nur einen
Bruchteil bekommen, zahlt er 150 Euro monatlich für die nächsten fünf
Jahre. Und trägt damit rund ein Viertel seiner Schulden ab. „Dann kann
ich mich endlich erwachsen fühlen“, sagt er.
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