Rezension | Tabea Hamperl

In die Tiefe lauschen: Büchner-Preisträger Lutz Seiler in der Villa Quandt

Das Brandenburgische Literaturbüro hat den Büchner-Preisträger Lutz Seiler mit einer Lesung in der Villa Quandt geehrt. Dabei gab der Schriftsteller Einblick in sein literarisches Werden.

Dass für den Brandenburger Autor Lutz Seiler Lyrik und Prosa verschiedene Wahrnehmungs- und Bewusstseinszustände sind, drückt sich in seinem Körper aus, wenn er vorliest. Mal konzentriert gefasst, mal ganz Rhythmus und Klang: Vor ausverkauftem Haus las er am Freitag in der Potsdamer Villa Quandt, in die er anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Georg-Büchner-Preis 2023 vom Brandenburgischen Literaturbüro eingeladen worden war.

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„Der Klang seiner Sätze, der Rhythmus seiner Sprache, der Sog seiner Bilder und Geschichten – Lutz Seiler ist sicher einer der originellsten und ungewöhnlichsten Autoren in Deutschland“, eröffnet Kulturministerin Manja Schüle (SPD) die Lesung. Dass er dafür einen der wichtigsten Literaturpreise Deutschlands erhalten hat, ist für sie keine wirkliche Überraschung, Seiler bekam bereits 2010 den Neuruppiner Fontane Literaturpreis. „Wir haben eben ein Auge und Ohr für Talente in Brandenburg.“

Lutz Seiler ist sicher einer der originellsten und ungewöhnlichsten Autoren in Deutschland.

Manja Schüle (SPD), Kulturministerin, über den Schriftsteller

Eingerahmt durch ein Gespräch mit Hendrik Röder, Geschäftsführer des Brandenburgischen Literaturbüros, bringt Lutz Seiler die Preisverleihung noch einmal in Form seiner Dankesrede nach Potsdam. Darin spürt er seinem literarischen Werden nach, verortet sein Schreiben im Koordinatensystem seiner Familie – und setzt sich in Beziehung zu Georg Büchners Werk. „Alles hohl da unten“, ZItat aus Büchners Woyzeck, fasziniert ihn schon während seiner Lehre als Baufacharbeiter. Literatur spielt da noch keine Rolle. Ein Satz, für ihn eng verwoben mit seiner Herkunftswelt: 1963 in Thüringen geboren, ist Lutz Seiler von der Haldenlandschaft des Uranbergbaus in der DDR geprägt, der die Körper seiner Vorfahren früh zerstört und letztlich sein Heimatdorf Culmitzsch verschluckt.

Urgroßvater verkaufte Milch und radioaktive Produkte

Sein Urgroßvater Franz Milker, der „Strahlenfranz“, betreibt einen Laden für Milch und radioaktive Produkte. Darunter das sogenannte „Radiumohr“, das angeblich mithilfe von Hörium das Gehör verbessert. Für Seiler wird es zum Sinnbild seines Schreibens: Durch die Substanz der Herkunft zu lauschen bis auf jenen Grund, an dem die Stimme wurzelt, anhebt, wo das Anstimmen der Sprache beginnt, nur ein Ton, nur ein Wort und seine Melodie.

Lutz Seiler behandelt Stoffe am liebsten mit Abstand, auch Verse und Wörter lässt er ausgiebig reifen. Mit allen Sinnen führt er den Leser in seinen Gedichten und Romanen zurück in die Lebenswelt der DDR, erzählt von Sehnsucht, seiner Kindheit und deutsch-deutscher Geschichte. Das alles ab 1995, als sein erster Gedichtband berührt/geführt erscheint. Immer wieder kehrt er zurück in das Haus am Waldrand im Hubertusweg, das Peter-Huchel-Haus im märkischen Wilhelmshorst, das er seit 1997 als literarische Gedenkstätte leitet und bewohnt.

Und dann macht Seiler den „unmöglichen Sprung hin zu den Gedichten“. Zeigefinger und Daumen zum L geformt, im rhythmischen Stakkato, treibt Seiler wie mit einem Taktstock die Worte voran. Sie wachsen nach oben, drehen Pirouetten und türmen sich auf. Sie durchstreifen die Kiefernwälder der märkischen Landschaft, stehen nachts im Hubertusweg am Fenster, schreiten Seilers Kindheit ab, bringen seinen Astronomielehrer zurück, dem „die Haare aus den Ohren wachsen wie kleine Bohrer“. Lassen sein Heimatdorf wieder auferstehen.

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Mit seinem Gedicht Geruch der Gedichte beschließt Lutz Seiler den Abend. Es beschwört eine Kindheitserinnerung herauf: Den diktierenden Löffel seiner Mutter, ihr Nicken und Wippen über den Thüringer Klößen, während sie Seiler als kleinem Jungen dabei hilft, Gedichte für die Schule auswendig zu lernen. die innere bewegtheit meiner mutter, die mir vorsprach – ich stand unter der küchentür, ich lernte das alles von ihr: erst ohne betonung, dann mit.

via www.tagesspiegel.de