Illegal – und unverzichtbar
Schotter knirscht, eine Staubwolke steigt auf: Santos "el Tito"* blinzelt in den Sonnenaufgang. Am Ende der Straße, wo die Stadt aufhört und die Wüste beginnt, kommt ein Pick-up-Truck angefahren. Arbeit, endlich! Doch der Wagen rollt vorbei. Santos blickt die Männer an und zuckt die Achseln. Diese Gringos!
Erntehelfer, Babysitter, Handwerker: Elf Millionen Papierlose leben in
den USA, ohne sie läuft wenig. Trump will sie trotzdem abschieben. Ein
Leben voll Angst.
Schotter knirscht, eine Staubwolke steigt auf: Santos „el
Tito“* blinzelt in den Sonnenaufgang. Am Ende der Straße, wo die Stadt aufhört
und die Wüste beginnt, kommt ein Pick-up-Truck angefahren. Arbeit, endlich! Doch
der Wagen rollt vorbei. Santos blickt die Männer an und zuckt die
Achseln. Diese Gringos! Schlafen bis in die Puppen, und wir warten und warten!
Tucson, Arizona. Um sieben Uhr morgens liegt die Unistadt im
Tiefschlaf; nur an einer Straßenecke im äußeren Süden der Stadt stehen 30
Männer herum. Einige haben Spaten und Schweißgeräte dabei, tragen
Arbeitshandschuhe und Rucksäcke. Santos besitzt nichts von alledem, er ist erst
seit drei Monaten in den USA und neu im Southside Worker Center. Als Einziger
redet er freimütig drauflos, nennt seinen Nachnamen und sein Heimatdorf in
Honduras. Daran, dass er gar nicht hier sein darf – nicht in den USA und nicht
auf der Suche nach Arbeit –, muss er sich erst noch gewöhnen.
Straßenecken wie diese gibt es in vielen US-Städten. Etwa
elf Millionen Einwanderer leben ohne gültiges Visum oder Green Card im Land; sie
sind entweder nach Ablauf ihres Visums im Land geblieben oder kamen wie Santos durch
die Wüste. Laut dem Pew
Research Institute gehört jeder 30. Mensch in den USA – und jeder vierte
Einwanderer – zu dieser Gruppe.
Bloß nicht auffallen
Die Papierlosen haben gelernt, nicht aufzufallen und sich
nicht zu beklagen. Viele sprechen Englisch, leben seit Jahrzehnten in den USA,
gründen Familien, arbeiten und zahlen Steuern – sie erbringen die gleichen
Leistungen wie US-Bürger, haben aber nicht die gleichen Rechte. Weil sie jede
Ausweiskontrolle vermeiden müssen, können sie die USA nicht verlassen und
erneut einreisen, keine Sozialleistungen beantragen, sich als Zeuge oder Opfer
eines Verbrechens nicht an die Polizei wenden, müssen Checkpoints und andere
Kontrollen umgehen und dürfen nicht wählen. Vor allem aber dürfen sie nicht
sozialversicherungspflichtig arbeiten und werden nicht krankenversichert. „Internalisierung“ von Grenzen nennt die Soziologin
Cecilia Menjívar diese bürokratischen
Grenzen, die ihr zufolge das Ziel haben, Papierlosen das Leben zu
erschweren und sie zur freiwilligen Ausreise zu bewegen.
Jeder könnte zu den elf Millionen gehören: der Nachbar, der
Babysitter, die Investmentbankerin. Als sich der erfolgreiche Journalist José Antonio Vargas 2011 in einem New York Times–Artikel
als Papierloser „outete“, öffnete er vielen die Augen. „Wir
sind nicht immer die, für die ihr uns haltet“, schrieb er. „Einige
pflücken eure Erdbeeren oder passen auf eure Kinder auf. Einige sind
Schüler oder
Studenten. Und andere schreiben die Nachrichtenartikel, die Ihr lest.
(…)
Obwohl ich mich als Amerikaner sehe, betrachtet dieses Land mich nicht
als
seinen Bürger.“ Als er sich für ein Time-Cover
mit anderen Papierlosen fotografieren ließ, war auch ein Deutscher darunter.
800 Meilen nordöstlich von Tucson, in Kalifornien, liegt die Farmarbeiterstadt Salinas. Auf dem Highway, der das Tal der
Pflücker und Gemüsebauern mit dem Silicon Valley verbindet, stauen sich
die
Lastwagen. „Hier kommen jeden Tag 4.000 Trucks durch“, sagt Stadtrat
Steve McShane. „Sie kommen mit frischem Gemüse fürs ganze Land
wieder heraus.“ Links und rechts vom Highway Werbeschilder: „Workers Wanted! Arbeiter
gesucht!“
Die Landwirte in Salinas haben ein Problem, erzählt McShane:
„Der Boden hier ist so fruchtbar und wir haben so viele Erntezyklen pro Jahr,
dass die Landwirte einfach nicht genügend Pflücker finden, um alle Felder zu
bestellen.“ Der Vorwurf vieler Republikaner, Einwanderer ohne Papiere nähmen
US-Amerikanern die Arbeit weg, bringt McShane zum Lachen: „Die Amerikaner, die
hier acht bis zehn Stunden zum Mindestlohn auf dem Feld stehen, will ich sehen!
Sie würden den Job sofort bekommen. Aber es meldet
sich keiner.“ Also nehmen die Bauern Papierlose als Pflücker.
Ohne die Papierlosen steht die US-Wirtschaft still
Der „Tag ohne
Einwanderer“ vor zwei Wochen hat verdeutlicht, was passiert, wenn die
Migranten – legale wie papierlose – nicht zur Arbeit erscheinen: Das Kindermädchen
kommt nicht, die Straßenbahn steht still, die Kassen der Supermärkte sind nicht
besetzt, Restaurants bleiben mangels Mitarbeitern und Kellnern geschlossen, Häuser werden nicht geputzt und
niemand mäht den Rasen. Sprich: Der American lifestyle der
Mittelklasse fällt
in sich zusammen. „Früher übernahmen Indigene die schmutzigen,
gefährlichen und
schwierigen Jobs“, sagt Natalia Banulescu-Bogdan vom Migrant Policy
Institute, einem gemäßigten Think Tank in Washington D.C. „Seit sie dazu
nicht mehr bereit sind, füllen undokumentierte Arbeiter aus anderen
Ländern
diese Lücke.“
„Uns zu organisieren war das Beste, das wir tun konnten“
Weil Papierlose keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben, stellen sie einen überproportional
großen Anteil der arbeitenden Bevölkerung in den USA. Jeder vierte
Farmarbeiter und jeder siebte Bauarbeiter hat keine Aufenthaltsgenehmigung.
Da viele mit gefälschten Sozialversicherungsausweisen arbeiten, zahlen sie
zusammen jährlich gut 11
Milliarden US-Dollar Steuern und Rentenbeiträge, von denen sie nach dem
jetzigen Gesetzesstand nie profitieren werden.
Santos wartet noch immer an seiner Straßenecke. Der
36-Jährige steht ganz am Anfang seiner Papierlosen-Karriere, doch er ist
überglücklich. „Stell dir vor, ich kann jede Woche 150 Dollar an meine Familie
schicken“, sagt er in brüchigem Spanisch. Seine indigene Muttersprache spricht
er nur noch am Telefon. „Als ich letzten Herbst fortging, weinten meine Kinder.
Aber jetzt geht es ihnen besser: Sie haben genug zu essen, können zur Schule
gehen und wir bauen uns dort ein Haus. Mein Ältester macht gerade eine
Ausbildung zum Elektriker; er wird es einmal besser haben als ich.“
Zur falschen Zeit am falschen Ort geboren
Santos‘ Geschichte ähnelt der vieler Migranten: Er ist zur
falschen Zeit am falschen Ort geboren, in eine Familie mit zwölf Kindern in
Honduras. Ohne Geld kein Abitur, kein Studium, kein verlässlicher Job – und in
der nächsten Generation erneut kein Geld … „Letztes Jahr erschien mir Jesus im
Traum“, sagt Santos. „Er versprach mir, dass er mir den Weg in die USA zeigen
würde.“ Was ihm bevorstehen würde, sagte Jesus nicht: die Fahrt zu Hunderten auf
dem Dach des Bestia-Zugs, die Wüste, Hunger, Durst.
In die Wüste von Sonora
an der Grenze zwischen Mexiko und den USA – ein bevorzugter, wenn auch
sehr gefährlicher Weg für die Migranten aus dem Süden – ging er allein;
für einen Schmuggler
reichte das Geld nicht. Tagelang marschierte er einfach nur geradeaus
und ernährte
sich von den Blättern der Nopales-Kakteen. Der erste
Mensch, der ihm begegnete, trug eine Militäruniform. Santos war zu
schwach, um
zu fliehen. „Du bist schon in den USA“, habe der Fremde auf Spanisch
gesagt.
„Aber du
wirst sterben, wenn du weiter durch die Wüste läufst.“ „Lieber sterbe ich,
als umzudrehen wie ein Feigling“, erwiderte er. Daraufhin habe ihm der Mann seinen Rucksack
gegeben und ihn zum Weitergehen gedrängt.
In dem Rucksack fand Santos Kekse, Wasser und
einen Burrito – genug, um weiterzulaufen. Nach zwölf Tagen erreichte er die
erste Stadt in den USA, Tucson. Kurz darauf bekam er seinen ersten Auftrag:
Reparaturarbeiten in einem Privathaus, für zwölf Dollar die Stunde – mehr, als
er in Honduras an zwei Tagen verdiente. Drinnen hing eine Uniform: Als
Grenzschützer hielt sein Auftraggeber Leute wie ihn von der Einreise ab; waren
sie ihm entwischt, beschäftigte er sie aber offenbar gern.
Wieder fährt ein Pick-up-Truck vor – und dieses Mal hält er. Der
Koordinator des Arbeiterzentrums, Eleazar Castellanos, eilt heran und winkt
Santos herbei. Sie verhandeln und Santos steigt ein.
„Uns zu organisieren war das Beste, das wir tun konnten“,
sagt Castellanos. „So schützen wir uns vor Ausbeutung, machen uns keine
Konkurrenz und können faire Löhne verlangen.“ Morgens um sechs Uhr losen die
Arbeiter aus, in welcher Reihenfolge sie Aufträge entgegennehmen. Wer um zehn
Uhr noch keinen Kunden bekommen hat, fährt wieder nach Hause, doch das passiert
selten. So günstig und unverbindlich wie hier finden die Einwohner nirgends
einen Handwerker; dafür gehen viele das Risiko der Schwarzbeschäftigung ein.
„Natürlich haben wir Angst“
Doch was wäre, wenn der nächste Truck keinem Kunden gehört,
sondern dem US-Heimatschutzministerium? Eine Straßenecke mit 30 Papierlosen
müsste doch der Traum eines jeden Fahnders sein – ein einfacher Weg, Donald Trumps Soll von mehreren Millionen Abschiebungen zu erfüllen. „Wir haben uns
hier bisher halbwegs sicher gefühlt“, sagt Castellanos. „Aber seit der Wahl
haben wir natürlich Angst.“
Schon Barack Obama schob mehr Papierlose ab als jeder
Präsident vor ihm, doch Trump will diesen Rekord noch brechen: Nachdem er im
Wahlkampf angekündigt hatte, nur „Kriminelle“ abzuschieben, hat er diesen Kreis inzwischen auf alle Papierlosen erweitert,
die einer Straftat auch nur verdächtigt werden – etwa des Arbeitens mit einem
gefälschten Sozialversicherungsausweis. Seither wurden bei Razzien Hunderte festgenommen. Fast jeden kann es treffen.
„Wer hört uns denn zu, wenn wir anonym bleiben?“
Das US-weite
Tagelöhnernetzwerk NDLON, das neben der Gruppe in Tucson noch 41 weitere im ganzen Land vertritt, von Washington, D.C. bis zur San Francisco Bay
Area, reagiert alarmiert. „Diese Razzien
sollen offenbar Chaos
säen und unsere Gemeinden verunsichern“, sagt NDLON-Sprecher David Abud.
Die
Immigrations- und Zollbehörde (ICE) versuche Razzien als etwas Normales
zu
etablieren. Die Papierlosen müssten Gegenwehr leisten und sich
organisieren: „Wir
werden gegen jede einzelne Abschiebung kämpfen“, sagt Abud.
Castellanos „Coming-out“
Dass Eleazar Castellanos mit seinem vollen Namen in die
Öffentlichkeit geht, ist ungewöhnlich. Zur Stimme der Papierlosen wurden bisher
fast ausschließlich die sogenannten Dreamers – junge Einwanderer, die durch einen Erlass von Barack
Obamas besonderen Schutz vor Abschiebungen und das Recht auf
ein Studium und Arbeit hatten.
Die Mehrheit der Papierlosen meldet sich aus Angst vor
Abschiebungen nicht zu Wort. Auch in Salinas nicht. „Seit der Wahl von Donald Trump gilt hier der Ausnahmezustand“, sagt Stadtrat
Tony Barrera, der das Arbeiterviertel Alisal vertritt.
„Unsere Bürger haben panische Angst; einige haben sogar ihre Kinder aus der Schule
genommen.“ Mit Journalisten sprächen sie derzeit nicht einmal, wenn ihnen
Anonymität garantiert werde.
Die Angst hat auch Tucson erreicht. Umso wichtiger findet es Arbeiterführer Castellanos, für sich und seine muchachos (Jungs) zu sprechen. „Wer
hört uns denn zu, wenn wir alle anonym bleiben?“ Als er durch eine
Gesetzesverschärfung seinen Job verlor, entschied er sich dazu, zu seinem
Status zu stehen und in die Offensive zu gehen. Auch wenn sein großes Ziel, eine umfassende
Einwanderungsreform, unter Trump in weite Ferne gerückt ist. Stattdessen kämpft
Castellanos für lokale
Schutzmaßnahmen, die die alltäglichen Barrieren und Gefahren für Papierlose
verringern: für sogenannte Sanctuary Cities und Sanctuary Campuses, die ihre Bürger oder Studierenden
vor Abschiebungen schützen; für Stadtausweise oder Führerscheine, die auch von
Papierlosen genutzt werden können; und für ein Verbot von Racial Profiling. „Der
Sheriff von Tucson hat uns bei einem Treffen gerade seine Unterstützung
zugesagt“, sagt Castellanos.
Problemlos papierlos in Kalifornien
Mit den Gesetzen variieren auch die Chancen auf eine feste
Anstellung: In republikanisch regierten Staaten wie Arizona müssen Arbeitgeber
seit 2007 überprüfen, ob Angestellte eine Arbeitserlaubnis besitzen und diese
mit Daten des Heimatschutzministeriums abgleichen – für Papierlose eine
unüberwindbare Hürde. Im liberalen Kalifornien ist diese E-Verify genannte
Überprüfung nur für Staatsbedienstete vorgeschrieben. Alle anderen Arbeitnehmer
brauchen nur eine Sozialversicherungskarte.
„Die Karte ist kein Problem“, sagt Kevin* und zeigt sein strahlendes Lächeln. Der junge Mann sitzt zusammen mit seinen vier Geschwistern im
Wohncontainer seiner Mutter. „Ich habe meine
für 120 Dollar bekommen.“ Ein Nicken geht durch die Runde, sie haben es alle so gemacht. Niemand in der Familie hat gültige Aufenthaltspapiere, doch mit ihrem kalifornischen Führerschein und gefälschten Sozialversicherungsausweisen kommen sie in den meisten Situationen
zurecht. Am Wochenende treffen sie sich bei ihrer Mutter in einer kalifornischen Kleinstadt, in der Woche
arbeiten und studieren sie in der Bay Area. „Für unsere
Verhältnisse haben wir es geschafft“, sagt Kevin. Vor zehn Jahren kam er mit seiner Familie aus Guatemala nach
Kalifornien.
Wären sie in Arizona gelandet, stünde Kevin wegen der
strengen
Arbeitskontrollen ebenso auf der Straße wie Santos; er könnte täglich abgeschoben werden. Stattdessen hat er sich in einer Gebäudereinigungsfirma zum Distriktaufseher
hochgearbeitet; er verdient und
versteuert fast 40.000 Dollar im Jahr. Weiter nach oben geht es allerdings nicht, nicht einmal in Kalifornien: Als ihm sein Chef kürzlich die Beförderung zum
Betriebsleiter
angeboten hat, schlug Kevin aus, wohlwissend, dass er dafür zum ersten Mal dem E-Verify-Programm unterzogen worden wäre.
„Danke, aber ich will gar keine Karriere machen“,
habe er
seinem Chef gesagt. Kevin schaut gequält, seine Geschwister
prusten los. Mit Notlügen kennen sie sich aus.
* Der Nachname
wurde zum Schutz des Protagonisten weggelassen.
via www.zeit.de