Ich bin stur, und das ist gut so! | Heinrich-Böll-Stiftung
Yuliya Sporysh bringt den Leader-Begriff aus der männlich dominierten IT-Wirtschaft in eine zivilgesellschaftliche Organisation. Ihre NGO Girls unterstützt ukrainische Mädchen und Frauen dabei, selbstbestimmt und erfolgreich ihre eigene Zukunft zu gestalten.
Yuliya Sporysh bringt den Leader-Begriff aus der männlich dominierten IT-Wirtschaft in eine zivilgesellschaftliche Organisation. Ihre NGO Girls unterstützt ukrainische Mädchen und Frauen dabei, selbstbestimmt und erfolgreich ihre eigene Zukunft zu gestalten.
Veröffentlicht hier: https://www.boell.de/de/2024/01/11/ich-bin-stur-und-das-ist-gut-so
„Ukrainische Frauen sollen selbstbewusst, reich und glücklich werden!“ Das ist Yuliya Sporyshs Ziel im Leben und vor allem in ihrer Arbeit. Yuliya Sporysh, geboren 1985, ist Gründerin und Direktorin der ukrainischen Nichtregierungsorganisation Girls (Divchata).
„Wir werden dazu erzogen, unauffällig zu sein, sagt Yuliya Sporysh mit Blick auf die Erziehung von Mädchen in der Ukraine. Wir sollen arbeiten, aber so, dass es das Familienleben nicht stört. Wir sollen Geld verdienen, aber keinesfalls mehr als der Mann. Kochen können, gut aussehen und so weiter.“ Sagt die Frau, die selbst mit leuchtend rot geschminkten Lippen, dunklen Locken und wachem Blick durchs Leben geht. Bis heute würden Mädchen in ukrainischen Familien mehr zu „gut ausgebildeten Müttern und Ehefrauen“ erzogen denn zu erfolgreichen Fachfrauen. Dieser soziale Druck bestimme die Rolle der Frauen in der ukrainischen Gesellschaft.
„Uns fehlt eine Kultur finanzieller Unabhängigkeit für Frauen. Bei uns sind Frauen typischerweise abhängig von Eltern oder dann Männern“, so Sporysh. „Als ersten Schritt müssen die Frauen darum selbst ihr Selbstbild verändern und verstehen, wie wertvoll sie sind. Dass sie ausreichend gut ausgebildet, schön und gut genug sind.“
In Erziehung, Bildung und auch im medialen Raum müssten dafür mehr Vorbilder gezeigt werden. „Es gibt ja starke und erfolgreiche Frauen in der Ukraine, von denen wir aber kaum etwas wissen“, kritisiert Sporysh. „Viele sind höchstens regional bekannt, als Geschäftsführerin lokaler Fabriken zum Beispiel. Aber die meisten Experten in Medien sind immer noch Männer.“ Das will Yuliya Sporysh ändern: Mädchen in der Ukraine sollen auch Frauen als Führungskräfte sehen und erkennen: „Ach, sie hat es ja geschafft. Warum soll ich das nicht auch können?“
Lehren aus der Familiengeschichte
„In meiner Familie gab es viele unglückliche Ehen, viele Frauen standen irgendwann allein da. Mit Kindern und in Armut, obwohl sie viel arbeiteten“, erinnert sich Yuliya Sporysh. „Sie hatten keine Ausbildung abgeschlossen, sehr früh Kinder bekommen. Das war’s: Keine Chance für Karriere.“ Auch Sporyshs Mutter habe sie in Kyjiw allein großgezogen, ihr jedoch Selbstvertrauen mitgegeben. „Sie sagte immer: ‚Wenn du was willst, versuch’s!‘ So habe ich gelernt, dass man vor allem wollen muss. Es gibt nichts Unmögliches.“
Sie sei stets gut in der Schule gewesen, war Klassensprecherin und später Studiengruppenleiterin. Doch sonst nie zivilgesellschaftlich aktiv. Als Jugendliche entschied sie sich: „Nein, ich will nicht in Armut leben.“ Sie schloss also die Schule ab, studierte Soziologie an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität in Kyjiw und promovierte. Gleichzeitig arbeitete sie als Interviewerin für soziologische Studien und verfügte so ab dem ersten Studienjahr über eigenes Geld. Später arbeitete sie jahrelang in einer Marktforschungsfirma und leitete ein ukrainisches Fintech-Unternehmen.
In der Digitalisierung sieht Yuliya Sporysh große Chancen für junge Frauen: Selbst in entlegenen Dörfern könne man sich nun online bilden, Englisch lernen. Und Mädchen fänden leichter Vorbilder in Socialmedia-Kanälen, wo sich auch viele erfolgreiche Frauen selbst präsentierten. Diese Möglichkeiten hatte sie selbst nicht. Aber:
Ich war immer sehr stur! Wenn ich mir etwas in den Kopf setze, ziehe ich das durch. Das hat mir oft geholfen
lacht sie. So lernte sie als unsportliche Jugendliche Eislaufen. Und so gründete sie Jahrzehnte später, praktisch im Kreissaal, eine NGO. Das war 2016. Damals hatte sich Yuliya Sporysh während der Schwangerschaft von ihrem Partner getrennt, wurde alleinerziehende Mutter. In der Entbindungsklinik lernte sie eine noch sehr junge Mutter in Not kennen und beschloss, ein Bildungsprojekt für Teenager zu initiieren. „Ich hatte keinerlei Wissen darüber, wie man so einen Verein aufbaut. Alle sagten mir: ‚Nein, Yuliya, niemand wird dir Geld für sexuelle Bildung geben!‘ Aber ich glaubte daran, das ist doch ein wichtiges Thema.“
Inspiration aus der Männerwelt zur Stärkung der Frauen
2019 arbeitete sie als Fundraiserin für ein IT-Start-up. Dabei lernte sie, wie in der Technologiebranche Professionals durch besondere Programme für die Übernahme von Führungsaufgaben motiviert werden. Doch die IT-Branche war noch immer eine überwiegend männliche Sphäre, „gebaut von Männern für Männer, wo geschlechtsspezifische Diskriminierung weit verbreitet ist, ob in Gehaltsfragen oder bei der Personalauswahl“, so Sporysh. Sie verließ die Privatwirtschaft. „Denn unserer Gesellschaft fehlte ein solches System, um Leader-Frauen aufzubauen“, so Sporysh. Das beginne schon bei Verhütungsmitteln. Denn nur wer eine Ausbildung abschließe, anstatt mit 16 schwanger zu werden, könne später Geld verdienen.
Darum gründet sich die Arbeit bei Girls auf zwei Säulen: Sexualbildung über Verhütungsmittel und selbstständige Kinderplanung sowie Instrumente, die die Frauen unterstützen, selbstständig Geld zu verdienen. Dazu gehören nicht nur Weiterbildungskurse, sondern auch psychologische Unterstützung und Öffentlichkeitsarbeit. Heute verfügt Girls laut Selbstauskunft über ein Jahresbudget von umgerechnet rund zwei Millionen Dollar. Gut 1,6 Millionen Dollar kommen von internationalen, über 250.000 Dollar von ukrainischen Förderprogrammen. Gut 45.000 Dollar spendeten Privatpersonen und rund 4.000 Dollar konnten Teilnehmende durch eigene Beiträge beisteuern. Das Girls-Team besteht aus rund 300 Menschen, fast alle sind Frauen, viele Binnengeflüchtete. Auch sie können sich innerhalb der Organisation weiterbilden. Dazu werden sie auch außerhalb der eigenen NGO geschult, beispielsweise zu mentaler Gesundheit und Psychologie. Allein im Jahr 2022, dem Jahr des russischen Großangriffs gegen die Ukraine, erreichte Girls mit humanitären Hilfsaktionen und langfristigen Frauenprojekten rund 150.000 Personen in mehr als 120 Orten überall in der Ukraine.
Yuliya Sporysh als Direktorin ist zuständig für Vernetzung mit Stakeholdern, internationalen und nationalen Partnern, Regierungsinstitutionen sowie Universitäten − von Unicef über die Heinrich-Böll-Stiftung bis hin zum IT-Verband der Ukraine. Sie tritt als Anwältin für die Rechte von Mädchen und Frauen in der Ukraine auf und befasst sich mit der strategischen Entwicklung der NGO.
Manchmal leitet sie auch selbst Gruppentreffen: „Die jungen Frauen fragen dann: ‚Wie soll ich eine gute Ehefrau und Geschäftsführerin sein? Wenn ich viel Geld verdiene, verlässt mich doch mein Mann!“ So ist die Vorstellung in der Ukraine: Wenn die Frau nicht finanziell abhängig vom Mann ist, fühlt der sich nicht stark und männlich genug.“ Darüber müsse man reden und andere Vorbilder bieten. Denn in der Ukraine sind materielle Werte doch noch immer wichtig fürs Überleben. Gerade in Kriegszeiten. „Besonders für junge Frauen ist materielle Unabhängigkeit der erste Schritt zu einem selbstbestimmten Leben“, betont Sporysh.
Langfristig sollen die heutigen Teilnehmerinnen auch die Girls-Programme tragen können, als Multiplikatorinnen und Patinnen: „Ich glaube, dass die Frauen, die jetzt an unseren Projekten teilnehmen, die Inhalte weitertragen werden und die Organisation finanziell unterstützen werden. Ich bin überzeugt, dass wir in einigen Jahren keine Fördergelder mehr brauchen werden.“
Der Krieg zerstört, erschöpft und bietet Chancen
Als Russland im Februar 2022 großflächig die Ukraine überfiel, wurde auch das Zuhause von Yuliya Sporysh und ihrer Familie mit drei Kindern in Irpin bei Kyjiw von russischen Truppen besetzt. Sie floh nach Polen, kehrte einige Monate nach der Befreiung Irpins, im Dezember 2022, zurück. Dort kann sie nun wieder im Homeoffice arbeiten und berichten:
„Ich verstehe die Frauen, die jetzt als Geflüchtete oder Binnenvertriebene in fremder Umgebung leben. Und ich weiß: Wenn diese Frauen mich sehen, sehen sie, dass ihre Lage nur vorübergehend ist. Dass es weitergehen kann.“
Russlands Krieg zerstört langfristig auch die Bildungschancen für junge Leute. In frontnahen Regionen können Kindergärten, Schulen und Universitäten nicht mehr besucht werden, weil sie zerstört oder aus Sicherheitsgründen geschlossen sind. Dort treten immer mehr gesundheitliche Problem auf: Diabetes bei Kindern und Krebserkrankungen bei Frauen nehmen zu.
Jetzt, zu Kriegszeiten, liegen Hausarbeit, Kindererziehung und Pflege älterer Menschen auf den Schultern der Frauen
betont Yuliya Sporysh auch aus eigener Erfahrung. „Ehrlich gesagt, wir sind sehr erschöpft.“ Sie legten nun darum in jedem Projekt den Fokus auf mentale Gesundheit. Bieten den Frauen psychologische Betreuung, um Stress abzubauen. Denn, so die Direktorin: „Solange wir unter starkem Stress stehen, funktioniert unser Kopf nicht.“
Gleichzeitig spricht Yuliya Sporysh von einem „Chancen-Fenster“, das die Kriegsrealität für die Gleichberechtigung der Frauen in der ukrainischen Gesellschaft bieten könnte. Viele Männer sind an der Front, verwundet oder gefallen. Frauen können und müssen nun ihre Führungsqualitäten beweisen. „Und was man einmal gelernt hat, verlernt man nicht einfach wieder.“
2022 hat Yuliya Sporysh auch ein Forschungszentrum gegründet, das die psychologischen Auswirkungen des Krieges und die Bedürfnisse der Gesellschaft analysiert. In einem Lenkungsausschuss für NGOs setzt sie sich außerdem für die Lokalisierung der humanitären Hilfe in der Ukraine ein.
Doch nun, Anfang 2024, ist sicher: Der Krieg wird lang. Millionen Ukrainerinnen sind im Ausland. Die Demografie erfährt einen Einbruch. Sporysh erwartet keine großen Rückkehrzahlen: „Die Frauen im Ausland integrieren sich. Wer minderjährige und schulpflichtige Kinder hat, wird nicht bald wiederkommen. Zurückkehren werden höchstens diejenigen mit erwachsenen Kindern oder wer sich nicht integrieren konnte.“
Um die anderen Frauen zurückzulocken, brauche es ein attraktives Umfeld mit besseren Chancen als im Ausland. „Aber das wird sehr lange dauern und sehr schwer werden“, sagt Sporysh.
So schwierig das Planen für die Zukunft in der Ukraine im Krieg auch ist, Yuliya Sporysh hat große Pläne für Girls. Die Projekte der NGO finden in vielen Regionen des Landes statt. „Falls, Gott behüte, russische Truppen wieder in Richtung Kyjiw vorstoßen sollten, haben wir Exil-Pläne“, sagt sie. „Wir werden auf keinen Fall unsere Arbeit stoppen“, so Sporysh. Zumal Girls auch aus dem Ausland weiter finanzielle Unterstützung erfahre. In den nächsten Jahren will Sporysh sich noch mehr in der Politik für Prävention geschlechtsspezifischer Gewalt und genderbasierte Gleichberechtigung einsetzen.
Und persönlich? „Ich sehe mich als Person, die neue Leader-Frauen aufbaut. Diese werden sehr selbstbewusst und gut ausgebildet sein, viel Energie haben, um Veränderungen herbeizuführen, und finanziell unabhängig sein.“
Alles wichtige Ziele für Yuliya Sporysh, ihre NGO Girls, all die Frauen und Mädchen und die Ukraine insgesamt.
via www.boell.de