Guido Krawinkel

Unfassbar – fünf Kilo­gramm Wahn­sinn für die Orgel

Ein Tag mit der Zweiten Orgelsinfonie von Kaikhosru Shapurji Sorabji in der Elbphilharmonie – ein Tag, an dem Musikgeschichte geschrieben wird.

8.20 Uhr: An diesem Sonn­tag­morgen ist die Hamburger Hafen­city nahezu menschen­leer. Verein­zelt haben schon Cafés geöffnet. Nur Möwen hört und sieht man überall. Ich befinde mich auf dem Weg zur , wo heute – keine Über­trei­bung! – Musik­ge­schichte geschrieben wird. Der briti­sche Orga­nist Kevin Bowyer führt die Zweite Orgel­sin­fonie von Kaik­hosru Shapurji Sorabji auf, ein Wahn­sinns­werk. Oder das Werk eines Wahn­sin­nigen? Die Partitur umfasst 350 DIN A3-Seiten, die reine Spiel­dauer beträgt gut neun Stunden. Bowyer hat die Sinfonie zwar schon mehrere Male gespielt, eine Auffüh­rung in Iowa, die 2017 eben­falls für einen Tag ange­setzt war, blieb jedoch unvoll­endet. Bowyer musste im zweiten, gut vier Stunden dauernden Satz einen Teil auslassen. Die Anstren­gung war zu groß. In  unter­nimmt er erneut einen Versuch.

Der Orga­nist Kevin Bowyer gibt dem Publikum eine Einfüh­rung in das außer­ge­wöhn­liche Werk Sorabjis.
(Fotos, oben und Titel: Guido Krawinkel)

10.45 Uhr: Es ist richtig fami­liär in der Elbphil­har­monie. Das Publikum bleibt über­schaubar, der große Saal füllt sich nur langsam, ist am Ende höchs­tens zu einem Drittel gefüllt. In die oberen Etagen unter der Saal­decke verirrt sich kaum jemand. Sorabji ist offenbar doch etwas zu speziell, selbst für das Elphi-hung­rige Publikum. Für Musiker indes auch: Kevin Bowyer ist aktuell der einzige Orga­nist, der die ersten beiden Sinfo­nien Sorabjis voll­ständig gespielt hat. Es gibt noch eine Dritte, aber die soll noch schwerer sein als die ohnehin schon als nahezu unspielbar geltende Zweite.

Der Orga­nist Thomas Corne­lius über­nimmt die Aufgabe, die Noten auf dem Touch­screen mittels Fern­be­die­nung „umzu­blät­tern“. (Foto: Guido Krawinkel)

11 Uhr: Kevin Bowyer und Thomas Corne­lius, Orga­nist an der Elbphil­har­monie, betreten die Bühne. Es gibt eine kurze Einfüh­rung. „So lange, wie ich in der Lage sein werde zu spielen, werden Sie in der Lage sein zuzu­hören“, macht Bowyer dem Publikum Mut. Dafür, dass er gleich eine gera­dezu herku­li­sche Aufgabe in Angriff nehmen will, wirkt er erstaun­lich gefasst. Auch Thomas Corne­lius steht ein Mara­thon bevor. Er muss die Noten auf dem Touch­screen, der auf dem Noten­pult des Orgel­spiel­ti­sches steht, mittels Fern­be­die­nung „umblät­tern“ und die Regis­trie­rungen weiter­schalten. Das verlangt höchste Konzen­tra­tion. Die oft auf mehr als drei Systemen notierte Musik Sorabjis ist hoch­kom­plex. 1475 Klang­kom­bi­na­tionen hat Kevin Bowyer für die Zweite Sinfonie vorbe­reitet. Gedauert hat das gut und gerne 12 Tage: 60 Stunden, die er vor einem Jahr schon mal an der Orgel verbracht hat, und im Vorfeld dieses Konzertes dann nochmal 20.

Kevin Bowyer beginnt zu spielen, und Akkord­ge­birge türmen sich auf. (Foto: Guido Krawinkel)

11.16 Uhr: Es geht los. Nachdem Bowyer sich nochmal für einige Minuten gesam­melt hat, betritt er die Bühne und beginnt. Akkord­ge­birge türmen sich auf, zahl­lose Melo­die­li­nien mäan­dern scheinbar ziellos umher, verhed­dern sich, verschwinden im musi­ka­li­schen Nirwana, in das Kevin Bowyer sich und sein Publikum gerade kata­pul­tiert. Sorabjis Musik passt in keine Kate­gorie. Hoch­kom­plexe rhyth­mi­sche Verschach­te­lungen, ebenso gigan­ti­sche wie viel­schich­tige archi­tek­to­ni­sche Struk­turen und eine höchst schil­lernde, zwischen Tona­lität und Atona­lität chan­gie­rende Harmonik machen diese Musik zu einem abso­luten Unikum. Ich bin zunächst völlig erschlagen, über­wäl­tigt. Offenbar auch ein Teil des Publi­kums. Es dauert keine Vier­tel­stunde, dann verlassen die ersten Zuhörer den Saal.

Ein Blick nach der Pause in den Saal: Die Reihen haben sich gelichtet. (Foto: Guido Krawinkel)

12.26 Uhr: Die erste Pause. 70 Minuten hat allein die Intro­duk­tion der Zweiten Sinfonie gedauert. Ein Klacks gegen­über dem, was mir und dem Publikum noch bevor­steht. Bei der Rück­kehr in den Saal zeigt sich: Die Reihen haben sich weiter gelichtet.

Kaik­hosru Shapurji Sorabji wurde 1892 in Essex geboren und starb 1988 in Dorset.

13.33 Uhr: Der zweite Satz beginnt, ein Thema mit immerhin 50 Varia­tionen. Nonstop gespielt, wären das über vier Stunden Musik. Zum Glück gibt es nach Varia­tion 28 nochmal eine Pause. Die Musik ist nun etwas zugäng­li­cher. Mysti­sche Akkorde wabern zu Beginn durch den Elphi-Wein­berg, duftige Harmo­nien entströmen dem großen Reflektor unter der Decke, wo auch ein Teil der insge­samt 69 Register der Orgel unter­ge­bracht sind. Die Haupt­orgel begleitet das mit pastell­far­benen Klängen. Sorabji, geboren 1892 in Essex und gestorben 1988 in Dorset, hatte 1929 zunächst den ersten Satz voll­endet und danach liegen­ge­lassen. Erst 1932 wurden auch die rest­li­chen beiden Sätze fertig.

Exzes­sive Doppel­pe­dal­pas­sagen, über sämt­liche Manuale mäan­dernde Melo­die­ketten, komple­xeste rhyth­mi­sche Verstri­ckungen – Kevin Bowyers Spiel ist beein­dru­ckend. (Foto: Guido Krawinkel)

14.01 Uhr: Kevin Bowyer ackert sich unbe­irrbar Takt für Takt durch die Partitur, pflügt uner­müd­lich durch ziem­lich wilde Partien, aber auch durch ruhi­gere Gewässer. Als Hörer bin nicht nur ich jetzt im Flow. Die Spiel­technik Bowyers ist phäno­menal. Exzes­sive Doppel­pe­dal­pas­sagen, über sämt­liche Manuale mäan­dernde Melo­die­ketten, komple­xeste rhyth­mi­sche Verstri­ckungen, alles spielt er mit stupender Ruhe und abso­luter Souve­rä­nität. Beein­dru­ckend.

15.01 Uhr: Zweite Pause. Wird auch Zeit, der Sekun­den­schlaf wird immer mäch­tiger. An der Bar fach­sim­peln Sorabji-Enthu­si­asten eupho­risch über Pedal­tei­lungen und Regis­trie­rungen. Einer hat das ganze Programm­heft bis auf den letzten Milli­meter voll­ge­krit­zelt mit Notizen. Da staunt auch der Jour­na­list.

Die Leis­tung Kevin Bowyers ist unfassbar. Er spielt weiter und immer weiter. (Foto: Guido Krawinkel)

15.42 Uhr: Einige Zuhörer gehen nur wenige Minuten nach der Pause, obwohl sie die Musik schon vorher erlebt haben. Warum jetzt? Bowyer unter­dessen spielt und spielt und spielt und spielt und … Einfach unfassbar diese Musik. Die Choral­fan­ta­sien von  scheinen nichts dagegen. Die gigan­to­ma­ni­schen Dimen­sionen dieser Musik – ohnehin ein Marken­zei­chen für Sorabjis Werke – sind erdrü­ckend. Bowyer hat zuweilen durchaus damit zu kämpfen. Aber er spielt weiter. Immer weiter. Auch das: unfassbar. Nur gele­gent­lich wischt er sich den Schweiß von der Stirn, wenn gerade mal eine Hand frei ist. Aber das ist nicht oft der Fall.

18 Uhr: Ende des ersten Teils. Es folgt eine zwei­stün­dige Pause, um 20 Uhr geht es weiter. . Denn das Cate­ring der Elbphil­har­monie mag für „normale“ Konzerte gerüstet sein, bei diesem Mammut­kon­zert bräuchte man schon etwas mehr als Bier und Brezeln.

Mystisch und geheim­nis­voll beginnt das große Finale. (Foto: Guido Krawinkel)

20.05 Uhr: Nach einer noch­ma­ligen kurzen Einfüh­rung durch Thomas Corne­lius beginnt das große Finale. Mystisch, verhalten, geheim­nis­voll. Drei Stunden Musik stehen mir und dem Publikum noch bevor.

21.07 Uhr: Die erste Fuge der abschlie­ßenden Tripel­fuge beginnt. Aufgeben kommt jetzt nicht mehr in Frage. Eigent­lich. Ein Teil des aufge­frischten Publi­kums ist jedoch schon vorher gegangen. Und Bowyer? Der spielt und spielt und … Er legt Stur­heit, Kondi­tion und Durch­hal­te­ver­mögen eines Extrem­sport­lers an den Tag.

Ein gewal­tiger Orgeldonner beschließt das gut neun­stün­dige Werk. (Foto: Guido Krawinkel)

23.10 Uhr: Die Musik verdichtet sich zuse­hends, massive Akkorde ballen sich zusammen wie drohende Vorboten eines schreck­li­chen Gewit­ters. Dann endlich ist es voll­bracht: die große Erup­tion, ein Schluss­ak­kord, der mit gewal­tigem Orgeldonner alles bisher gehörte zu bündeln scheint. Schluss. Ende. Aus. Kevin Bowyer sackt kurz zusammen, dann richtet er sich auf, wird vom verblie­benen Publikum frene­tisch gefeiert. Minu­ten­lang. Zu Recht. Es ist zwei­fels­ohne eine epochale Leis­tung, die er heute voll­bracht und auf die er sich jahr­zehn­te­lang vorbe­reitet hat. Hat da jemand Zugabe gerufen?

Kevin Bowyer dankt den noch verblie­benen Zuhö­rern für den frene­ti­schen Applaus.
(Foto: Guido Krawinkel)

23.21 Uhr: Back­stage. Kevin Bowyer ist erleich­tert, bekommt erst mal ein kühles Bier. Seine ausge­druckte Partitur, die er als Backup dabei hatte, verschenkt er frisch signiert an Thomas Dahl, den Kirchen­mu­siker der Hamburger Haupt­kirche St. Petri. Fünf Kilo­gramm Papier, voll bedruckt mit Noten. Vielen Noten. Ich werde beizeiten nach­fragen, wie weit Dahl schon mit dem Üben gekommen ist…

Sorabji ist und bleibt ein Solitär. Rätsel­haft. Geheim­nis­um­woben. Von seiner Musik leben musste er nie. An Auffüh­rungen war er lange nicht inter­es­siert. Wenn man einen Tag mit dieser nahezu unspiel­baren Musik verbracht hat, beginnt man zu ahnen, warum. Aber viel­leicht ging es ihm mit seinen Werken auch nicht um Musik, sondern um die Suche nach dem Tran­szen­denten, über die mensch­liche Exis­tenz Hinaus­wach­senden. Kevin Bowyer jeden­falls ist an diesem Tag in gera­dezu über­mensch­li­cher Weise über sich hinaus­ge­wachsen.

23.30 Uhr: Fußmarsch ins Hotel. Ein biss­chen Bewe­gung tut nach einem ganzen Tag rumsitzen und zuhören ziem­lich gut. Es bleibt ein unwirk­li­ches Gefühl. Ist es tatsäch­lich schon vorbei? War das alles? Unfassbar.

Weitere Infor­ma­tionen über Leben und Werk des Kompo­nisten Kaik­hosru Shapurji Sorabji bietet das Sorabji Archiv: www​.sorabji​-archive​.co​.uk

 

via crescendo.de