feature | Isabel Stettin

Gruppenvergewaltigung: Über die schwierige Wahrheitssuche

Die junge Frau, um die sich alles dreht, ist nicht im Gerichtssaal erschienen. Ihre Aussage macht sie laut Richter Stefan Bürgelin "an einem anderen Ort". Sabrina Wilke*, 19, Azubi zur Altenpflegerin, sei traumatisiert, erklärte der psychiatrische Gutachter. Seit der Tat leide sie unter Angstzuständen und Albträumen, meide Gruppen.

Die junge Frau, um die sich alles dreht, ist nicht im Gerichtssaal erschienen. Ihre Aussage macht sie laut Richter Stefan Bürgelin „an einem anderen Ort“.

Sabrina Wilke*, 19, Azubi zur Altenpflegerin, sei traumatisiert, erklärte der psychiatrische Gutachter. Seit der Tat leide sie unter Angstzuständen und Albträumen, meide Gruppen. Eine Vernehmung vor vielen Prozessbeteiligten könnte ihren Zustand verschlimmern. Mehr als sechs Stunden lang schildert die Zeugin deshalb unter Ausschluss der Öffentlichkeit per Videoübertragung, wie sie die Nacht zum 14. Oktober 2018 erlebt hat, nachdem sie mit dem Hauptangeklagten Majd H. einen Technoklub in Freiburg verlassen hatte.

Die Tat hatte schon deshalb Aufsehen erregt, weil zehn der elf Angeklagten Asylbewerber sind, acht davon aus Syrien, fast alle polizeibekannt.

78 Leitzordner am Freiburger Schwurgericht

Laut Anklage soll einer von ihnen der jungen Frau und ihrer Freundin im Technoklub zwei Ecstasy-Tabletten verkauft haben. In einem spendierten Drink habe Majd H. der damals 18-Jährigen vermutlich zusätzlich K.o.-Tropfen verabreicht. Danach gingen sie in ein nahes Wäldchen, wo er ihr ein Tattoo auf seinem Oberschenkel habe zeigen wollen. Dort habe er Wilke vergewaltigt und anschließend Bekannte zu der wehrlos am Boden liegenden Frau geführt, die sich ebenfalls an ihr vergangen haben sollen.

Neun von ihnen schweigen. Zwei bestreiten die Tat. Der Sex sei „einvernehmlich“, gar massiv „gefordert“ gewesen.

Der Fall zeigt, wie schwierig bei Sexualstraftaten der Nachweis eines Verbrechens ist. Erst recht, wenn Drogen im Spiel sind und das Opfer Erinnerungslücken hat. Und er zeigt, was es für das Opfer bedeuten kann, wenn die Verteidiger mit allen Mitteln eine Verurteilung ihrer Mandanten verhindern wollen.

Das Freiburger Schwurgericht muss sich durch 78 Leitzordner durcharbeiten, jeder 500 Seiten dick, es muss Spuren am Opfer, Whatsapp-Chats der Angeklagten und Anrufprotokolle bewerten, fünf Sachverständige hören und rund 50 Zeugen befragen. Es ist auf Spuren vor Ort angewiesen und auf die Aussagen von Sabrina Wilke. Doch deren Erinnerungen beschreibt Staatsanwalt Rainer Schmid als bruchstückhaft, wie „Traumsequenzen“.

Es ist die zentrale Frage des Verfahrens: In welchem Zustand war sie? War sie erkennbar wehrlos? Und in welchem Zustand waren die Angeklagten, die ebenfalls Alkohol und Drogen konsumiert haben sollen?

Sie habe, so schilderte es Wilke der Polizei, zunehmend die Kontrolle über ihren Körper verloren, habe sich nicht mehr bewegen, nicht schreien können. Die Männer hätten ihren Kopf festgehalten und sie vaginal und oral vergewaltigt. Sie habe „gewimmert“ und „verneinende Laute“ von sich gegeben. Fotos der jungen Frau, die Rechtsmediziner am nächsten Tag aufnahmen, zeigen Verletzungen, die zu ihrer Darstellung passen: mehrere Hämatome und ein Bluterguss am Oberarm, laut einer Rechtsmedizinerin ein typischer „Festhaltegriff“. Ihre Fingernägel waren abgebrochen. Demnach habe sie ihre Angreifer gekratzt. Bei einigen Angeklagten wurden Kratzwunden und andere Spuren der Gegenwehr dokumentiert. Nach Auslegung einer Verteidigerin am Rande des Prozesses möglicherweise aber auch „Spuren der Enthemmung“.

Aussage gegen Aussage

Der Anklage zufolge sollen die Männer erkannt haben, dass die Frau unter Drogen stand, und ihre Wehrlosigkeit ausgenutzt haben. Timo P., einziger Deutscher unter den Angeklagten und der einzige, der ausführlich ausgesagt hat, gibt zu, dass die Frau für ihn eindeutig berauscht war. Sie war „drauf“, berichtete er, ihre „Pupillen waren extrem geweitet,“ wie bei „einer Eule“. Dass sie aber wehr- und hilflos gewesen sei, diesen Schluss habe er nicht gezogen. „Es wird von den Medien so dargestellt, dass sie bewusstlos war und alle über sie rübergerutscht sind. Aber das war nicht so“, sagt er. Er habe doch „keine Gewalt“ angewandt. Nicht er, sie habe Sex gewollt.

Doch auch sexueller Missbrauch von widerstandsunfähigen Personen kann eine Vergewaltigung sein, „ohne Gewalt zu begehen“, erklärt ihm Richter Stefan Bürgelin. Die Schwierigkeit: „Wenn dem mutmaßlichen Täter nicht nachzuweisen ist, dass er die Widerstandsunfähigkeit des Opfers erkannt hat, kann er nicht bestraft werden“, sagt Elisa Hoven, Professorin für Strafrecht an der Universität Leipzig. „Ihm fehlt dann der Vorsatz für die Tat. Und das ist an sich auch richtig: Wenn der Täter wirklich nicht erkennt, dass das Opfer unter Drogen steht, sondern glaubt, dass es tatsächlich sexuelle Handlungen wünscht.“ Und genau darauf wird sich ein Angeklagter berufen.

So steht Aussage gegen Aussage. In einem toxikologischen Gutachten wird es darum gehen, wie Ecstasy und Alkohol auf die junge Frau gewirkt haben, welche Nachweise für K.o.-Tropfen entdeckt werden. Es gibt nur ein objektives Dokument der Tatnacht, das Aufschluss über ihren Zustand gibt: eine Tonaufnahme auf dem Smartphone von Muhanad M. Er hat die junge Frau nach zweieinhalb Stunden aus dem Gebüsch gezogen, half ihr, sich anzuziehen, sprach mit ihr. Aber auch er steht nun vor Gericht, weil es Hinweise gibt, dass auch er sich an ihr vergangen haben soll.

„Du bist wirklich ein Engel“, ist sie zu hören. „Du hast mir echt geholfen.“ Sie klingt wie weggetreten, die Stimme verzerrt. Sie fühle sich „entehrt“, sagt sie dann. Und kaum noch verständlich die Frage: „Womit hat man so etwas verdient?“

Gemeinsame „konfrontative“ Strategie

Es hängt viel von der Glaubwürdigkeit der wichtigsten Zeugin ab. Staatsanwalt Thorsten Krapp beschrieb sie vor Gericht als „reflektiert“. Ihre Schilderungen deckten sich mit Anklageschrift und Aktenlage. Sie habe ihre Worte „vorsichtig“ gewählt, „ohne jeden Belastungseifer“.

Die Verteidiger hingegen zweifeln ihre Glaubhaftigkeit an. Anwältin Hanna Palm, die Timo P. vertritt, konfrontiert eine wichtige Zeugin, die Freundin von Wilke, mit Fragen, die für manche im Gerichtssaal Grenzen überschreiten: Ob die junge Frau vor dem Klubbesuch längere Zeit keinen Sex gehabt habe? Ob sie eher auf “ hellere“ oder „dunklere“ Typen stehe? Welchem Typ ihr Ex-Freund entsprach? An einem anderen Prozesstag fragt eine Kollegin den zuständigen Beamten, ob Wilke in der Tatnacht möglicherweise Strapse getragen habe.

Solche Fragen zum Intimleben empören die Anwältin Christiane Steiert, die Sabrina Wilke vertritt. Sie würden nichts zur Sache beitragen. Ihre Mandantin werde durch Aussagen der Verteidiger „verunglimpft, stigmatisiert und in ihrem Persönlichkeitsrecht verletzt“. Man mache sie so ein zweites Mal zum „Opfer“.

„Mutmaßliche Opfer in den Schmutz zu ziehen verbietet sich grundsätzlich und schadet in dieser aufgeheizten Stimmung nur“, sagt der Verteidiger von Majd H., Jörg Ritzel. So eng die Phalanx der elf Verteidiger auf den ersten Blick wirkt, eine gemeinsame „konfrontative“ Strategie scheint es nicht zu geben. Hart zu fragen, sagt Ritzel, heiße nicht, jede Grenze zu überschreiten. Unverständnis und Hass gegenüber den Verteidigern begleiten das Verfahren ohnehin seit dem ersten Prozesstag. Ritzel selbst wurde ein Brandbombenanschlag angedroht, nachdem er seinen Mandanten zitiert hatte, der behauptete, der Sex sei „einvernehmlich“ gewesen. Auch seiner Familie wurden Gewalttaten angekündigt. Mehrere Pflichtverteidiger bekommen seit Prozessbeginn fast täglich Drohmails.

Schonungslose Fragen nach Intimleben

Verteidiger hätten die Pflicht, Widersprüche und Lücken in Anklage und Beweisführung zu erkennen und dafür zu sorgen, dass Regeln des Strafverfahrens eingehalten würden, erklärt die Freiburger Anwaltskammer. „Verteidigung meint nicht, dass die angeklagte Straftat verteidigt wird.“ Je einseitiger die Berichterstattung nach der Tat, desto deutlicher müsse die Verteidigung auch „auf Widersprüche in den Aussagen“ des mutmaßlichen Opfers hinweisen. Dazu seien manchmal auch schonungslose Fragen nach dem Intimleben notwendig.

Entscheidend ist am Ende, was sich im Gerichtssaal aufklären lässt. Auch wenn die Tat von den jungen Männern gemeinsam begangen worden sein sollte, muss sie jedem einzelnen nachgewiesen werden. Die Verteidiger verweisen darauf, dass die Beweislage bei einigen ihrer Mandanten „dünn“ sei. Die Staatsanwaltschaft hingegen ist überzeugt, dass auch ohne Geständnisse die Indizien für eine Verurteilung reichen. Derweil suchen die Ermittler nach weiteren Tatverdächtigen. Sie gehen von mindestens einem weiteren Mann aus, nach dem noch gefahndet wird.

* Name von der Redaktion geändert

Dieser Artikel ist dem stern, Ausgabe 32/2019, entnommen

via www.stern.de