Reportage | Tabea Hamperl

Die gesegneten Helfer von Halensee

Seit Beginn der Ukraine-Krise sind die Hilferufe der Tafel fast wöchentlich in den Medien. Die Ausgabestelle in Berlin-Halensee kämpft mit denselben Problemen – und spürt sie dennoch weniger. Was ist dort anders? 
„Ware!“ Fünf Ehrenamtliche schwärmen aus der Hochmeisterkirche in Berlin-Halensee. Jochen Schneider reicht schwarze Klappboxen aus dem Transporter heraus. „Wer zwei aufeinanderstellt, muss weniger laufen!“
Drinnen wuchtet Stefanie Gumz eine Kiste auf einen der Tische mit den grünen Wachstischdecken bevor andere Helfer den Inhalt auf die einzelnen Stationen verteilen: hartes Gemüse, weiches Gemüse, Obst, Kräuter. Konserven, Süßigkeiten, Brot und Kuchen, Drogeriewaren.
Es ist ein Mittwochmorgen im April. Nach einem scheinbar endlosen Berliner Winter ist sie endlich da, die Frühlingssonne. Kühl ist es immer noch; eine Jahreszeit, in der man sich oft, zu dünn angezogen, erkältet.
Mittwochs wird die Hochmeisterkirche zu einer Laib-und-Seele-Ausgabestelle der Tafel. Seit ziemlich genau einem Jahr ist, wie bei den 47 anderen Berliner Standorten, der Druck auf die Helfer deutlich gestiegen.
Nach Russlands Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 zeigen sich ab April die Folgen auch hier. Von einem Tag auf den anderen stellen sich vor der sechseckigen Backstein-Kirche auf einmal 30% mehr Kunden an, im Sommer sogar 50% – mehr als 600 Haushalte monatlich werden hier zwischenzeitlich versorgt. Die Warenmenge bleibt gleich, wird später sogar kleiner. Laut Einwohnerstatistik vom Dezember 2022 leben in Charlottenburg-Wilmersdorf rund 8700 Ukrainer, 80% über dem Berliner Durchschnitt. Und doch sagt die Leiterin in Halensee: „Wir sind gesegnet.“ Wie kann das sein?
Gesprächsfetzen der Ehrenamtlichen hallen durch das Kirchenschiff; die Wärme der Fußbodenheizung verliert sich in der Höhe. „Was verschimmelt oder matschig ist: weg. Braun, gelb oder welk ist ok“ erklärt Gumz den helfenden Konfirmanden.
Sie und ihr Team kennen die Probleme, die die über 960 Tafeln in Deutschland seit Monaten beklagen. Es ist eine Kettenreaktion, angestoßen von der Ukrainekrise: explodierende Energiekosten – steigende Preise – steigende Inflation – mehr Hilfsbedürftige. Gepaart mit weniger Lebensmittelspenden, Spannungen zwischen den Kunden, zu wenig Geld und fehlenden Ehrenamtlichen.
Stefanie Gumz schiebt noch einen Tisch zu den haltbaren Lebensmitteln. „Wer kann helfen?“ Über enge ausgetretene Stufen geht es in den Keller. Die „Eins Mehr!“-Supermarkt-Aktion hat sich gelohnt. „Heute packe ich die Kisten extra voll. Ich möchte, dass die Leute spüren, dass viel gespendet worden ist“.
Gumz ist 55 und gewöhnt, zu improvisieren: Sie arbeitet als Flugbegleiterin und strahlt eine entschlossene Gelassenheit aus: „Wenn mir das Kommunikationstraining außerhalb der Fliegerei irgendwo was bringt, dann hier“. Die Ausgabestelle leitet sie seit ihrer Gründung 2017, mittlerweile gemeinsam mit Jochen Schneider. Das größte Problem? Gumz überlegt. „Die Ungewissheit. Jede Woche wieder nicht zu wissen, wie viele Lebensmittel wir haben. Das würde ich aber eher als Herausforderung empfinden.“
Sechs Helfer sortieren Obst und Gemüse der zweiten Lieferung, jemand schmiert Leberwurst auf Brötchenhälften. Es riecht nach Kaffee und süßlicher Bodylotion.
Hannelore Burdach schüttelt eine Plastiktüte und prüft, ob der Feldsalat sich locker bewegt, also frisch ist. Ist er nicht. Sie empfindet die Situation nicht als vordergründig belastend: „Mir macht es eigentlich mehr Spaß, weil ich weiß, es ist eine sinnvolle Aufgabe. Obwohl ich daran zweifle, dass wir dafür zuständig sind und nicht der Staat“. Burdach ist 88 und von Anfang an dabei. Sie hat, genau wie Stefanie Gumz, als Flugbegleiterin gearbeitet, als Fliegen noch exklusiv war. Mit ihrer schwarzen Brille, den schwarzen Segelschuhen und ihrer lebendigen Gestik wirkt sie sehr viel jünger. „Fliegen konserviert!“ Stefanie Gumz lacht.
Dass die Ausgabe tagsüber stattfindet, führt dazu, dass die meisten der Ehrenamtlichen im Rentenalter sind. Einer von ihnen hat sich letztes Jahr beim Heben einer Kiste drei Wirbel gebrochen. „Wir stehen, wir ackern, wir sind kaputt am Mittwochnachmittag. Ich brauche richtig fitte Leute, das ist die große Herausforderung“, sagt die Leiterin der Ausgabestelle.
Die erste Kundin wartet bereits vor der Kirche; sie hat sich von Mark Spaldin einen Klappstuhl geholt. Der 61-Jährige steht im kühlen Vorraum der Kirche und regelt den Einlass. „Ich möchte keinen Streit und keine Drängelei. Wir haben fast die doppelte Menge an Menschen, da muss es fließen“, sagt er mit kanadischem Akzent. Er grinst. „Ich war ein strenger Lehrer“.
Ein Paar in Steppjacken kommt auf ihn zu, sie möchten neu registriert werden. Spaldin schüttelt bedauernd den Kopf „Wir nehmen gerade keine neuen Kunden an. Kommen Sie am Ende wieder, vielleicht ist dann noch was da“.
Seit Juni 2022 herrscht hier Aufnahmestopp; die Abgewiesenen erhalten vorgepackte Tüten von neuen PopUp-Stellen. Im April 2023 versorgt Halensee 448 Haushalte.
„Ihr Lieben, wir legen los!“
Reicht die heutige Lieferung? Schwer zu sagen. Jede Ausgabe ist eine Gleichung aus der Zahl an Kunden, Spenden und Bauchgefühl, wie viel mit Blick auf die restlichen Wartenden ausgegeben werden kann. Und der Frage, ob eine späte Lieferung noch einmal die Körbe auffüllt.
Ein Strom aus dunklen Mänteln schiebt sich an den Tischen vorbei. „Was darf ich Ihnen geben?“. Im Hintergrund das Rascheln von Plastiktüten, das Klack-Klack der ausgewaschenen Kisten beim Zusammenklappen. Stefanie Gumz sortiert derweil mit drei anderen zügig die neue Lieferung, ihre Brille beschlägt über der Maske. Ein kleines Mädchen mit Bärenohren-Mütze kreischt wie ein Vogel, der Schall verteilt sich überallhin.
„Natürlich hat die Situation Auswirkungen, aber unsere Ausgabestelle ist durchaus eine gesegnete Ausgabestelle“, sagt Stefanie Gumz.
Niemand fühlt sich offenbar über Gebühr belastet; die meisten haben das Gefühl, dass es ihnen in Halensee vergleichsweise gut geht, die Gruppe meist zusammenhält.
Die Hochmeisterkirche ist zehn Minuten vom Ku’damm entfernt, unweit davon befinden sich ein Fleischsommelier und ein Designer-Secondhand-Laden. Charlottenburg-Wilmersdorf gehört laut Gesundheits- und Sozialstruktur-Atlas Berlin 2022 zu den Bezirken mit den geringsten sozialen und gesundheitlichen Belastungen.
„Wir bekommen viele Privatspenden, stehen finanziell gut da. Die Kirchengemeinde ist auch sehr großzügig“, sagt Gumz. „Regelmäßige Spenden hatten wir vor der Ukrainekrise eigentlich gar keine. Ich glaube, die Menschen haben ihr eigenes Wohlsein nochmal anders vor Augen“.
Laut dem Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) spenden die einkommensstärksten Haushalte am meisten und am häufigsten. Das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) stellt fest, dass die Spendenbereitschaft für Ukraine-Geflüchtete trotz Inflation auch ein Jahr nach Ausbruch des Krieges stabil ist.
Über die Abwesenheitsliste gebeugt spricht Stefanie Gumz eine Helferin an: „Maria, bist du nächste Woche da? Da fehlen viele. Kannst du einspringen?“
Im Gegensatz zu vielen anderen Ausgabestellen gibt es in Halensee genug Ehrenamtliche. Die meisten sind von Anfang an dabei. „Als wir angefangen haben, wussten wir, die meisten können das noch zehn Jahre machen. Andere Ausgabestellen existieren schon viel länger, die haben jetzt ein Problem“, so Gumz.
Um 14:20 warten noch 23 Kunden vor der Kirche. Eine Frau nähert sich Spaldin. „Heute war viel!“ und lacht. Er hilft ihr, die Einkäufe die Treppe herunterzutragen.
Kurze Zeit später ruft er „Letzte Kunden!“ ins Kirchenschiff.

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