Der Fall meines Lebens: Arbeit im Impfzentrum
SZ-Magazin: Frau Breer, Sie gehörten zu den ersten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Care-Teams im Hamburger Impfzentrum, dem größten in Deutschland. Wie sind Sie zu dem Job gekommen?
Kathrin Breer: Eigentlich bin ich Journalistin, aber wie so viele saß ich im vergangenen Jahr die meiste Zeit zuhause rum. Nachdem ein Bekannter während des ersten Lockdowns an Corona verstorben war, fragte ich mich, was ich dazu beitragen kann, um die Pandemie einzudämmen. Bei meiner Recherche habe ich herausgefunden, dass ich auch als Nichtmedizinerin im Impfzentrum mitarbeiten kann, nämlich im Care-Team. Damals explodierte die Arbeit in den Messehallen in Hamburg gerade: Als ich anfing, waren wir zu acht im Team, schnell wurden es über hundert. Unser Team besteht aus den verschiedensten Menschen: Polizistinnen, ein emeritierter Professor, ein Tätowierer, eine Tänzerin vom Kiez, ein paar Studierende und viele Leute aus der Gastronomie, die ihre Jobs verloren haben. Anfangs habe ich mich gefühlt wie in einem Ameisenhaufen. Wir haben aber sehr strenge Hygienemaßnahmen, und auch meine Impfung hat mich dahingehend entspannt.
Was machen Sie im Impfzentrum, wenn Sie nicht selbst impfen?
Das Care-Team kümmert sich um Menschen, die eine Form von Begleitung oder Unterstützung brauchen. Das sind hauptsächlich ältere Leute im Rollstuhl oder Menschen mit Behinderung. Es können auch Personen sein, die körperlich fit sind, aber Angst vor ihrer Impfung haben oder nervös sind. Die Messehallen sind riesig, drinnen sieht es ein bisschen aus wie in einem Flughafen. Viele Impflinge sind so einen großen Menschenandrang nach langer Isolation nicht mehr gewöhnt. Wir im Care-Team versuchen, die menschliche Seite des ganzen Impfablaufs abzudecken. Wir hören zu, spenden Trost, sprechen ihnen gut zu – und wir freuen uns mit ihnen, wenn sie ihre Erleichterung oder Freude über die Impfung teilen möchten.
Wie läuft ein normaler Arbeitsalltag bei Ihnen ab?
Weil ich keine Frühaufsteherin bin, arbeite ich in der Spätschicht. Anfangs steht regelmäßig ein Schnelltest an. Wir verabreichen im Zentrum meistens um die 8000 Impfungen pro Tag. Die Impflinge, für die ich zuständig bin, begleite ich zwischen ein und zwei Stunden. Meistens unterhalten wir uns in der Warteschlange vor der Impfanmeldung oder später im Ruhebereich nach der Impfung. Da fällt bei vielen der Stress ab und die meisten öffnen sich nochmal mehr. Manche finden es sogar schade, wenn sie nach Hause gehen müssen.
Sie müssen viel Dankbarkeit erleben.
Viele Impflinge, die lange einsam und isoliert gelebt haben, sind einfach sehr glücklich, wenn jemand da ist, der ihnen zuhört und ihre Gefühle teilt. Dafür sind wir vom Care-Team da. Das führt dazu, dass Menschen schnell aus ihrem Privatleben erzählen, auch über Krankheiten oder sogar den Tod. Vor allem bei Menschen jenseits der 80 ruft die Pandemie Erinnerungen an harte Zeiten hervor, viele sprechen mit mir über ihre Flucht, über den Krieg oder die Zeit danach. Manche fangen auch an zu weinen. Ich versuche dann zu erkennen, was der Person in dem Moment guttun könnte.
Gibt es eine Begegnung, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Ein älterer Herr stand allein in der Warteschlange. Ich habe gemerkt, dass es ihm nicht gut ging und ihn gefragt, ob er kurz rausgehen möchte. Er erzählte mir, dass einer seiner beiden Söhne sich mit dem Coronavirus infiziert hatte und vor einigen Wochen an Covid-19 gestorben sei. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sein verstorbener Sohn die Impfung bekommen sollen, weil er noch mehr vom Leben vor sich hatte. Das war ein sehr berührender Moment. Ihm sind sofort die Tränen in die Augen gestiegen. Weil wir beide eine Maske aufhatten, konnte ich seine restliche Mimik nicht erkennen und in den Arm nehmen kann man sich ja auch nicht. Es ist schon eine Herausforderung, in solchen Situationen Trost zu spenden.
»Durch die Arbeit ist mir außerdem noch einmal bewusst geworden, wie viele Menschen eine Behinderung oder Vorerkrankung haben«
Wer ist Ihnen noch im Kopf geblieben?
Eine ältere Dame drückte mir nach der Impfung ihre Visitenkarte in die Hand und meinte, nach dem Lockdown solle ich sie auf einen Kaffee und Kuchen besuchen kommen. Und vor Kurzem habe ich auf einen Dreijährigen aufgepasst, während seine Mutter ihre Impfung erhielt. Ich habe ihm einen Gummihandschuh aufgeblasen und auf meinem Funkgerät rumspielen lassen. Ein älteres Ehepaar hat mir in der Warteschlange davon erzählt, wie der Vater der Frau im Krieg im Kessel von Stalingrad Bilder gemalt und den Soldaten dadurch Überlebenswillen gegeben hat. Als Dank, dass ich sie begleitet und ihnen zugehört habe, schickten sie mir ein paar Wochen später ein Buch mit den Bildern und einen langen Brief. Solche Begegnungen sind wahnsinnig wertvolle Geschenke und sie machen die Zeit gerade erträglicher.
Können Sie nach so einem Arbeitstag überhaupt abschalten?
Ich nehme ehrlich gesagt viel Erlebtes mit nach Hause, denke oft an bestimmte Leute zurück, obwohl wir jeden Tag Tausende Impflinge haben. Richtig schön ist es, wenn wir uns bei der Zweitimpfung wiedersehen. Ich erlebe so viele Menschen in Extremsituationen, das ist eine absolute Ausnahme. Hier kommen alle zusammen, egal ob jung oder alt, privat oder gesetzlich versichert, arm oder reich, gesund oder krank. Es ist ein ziemlich kompletter Querschnitt durch die Gesellschaft, das hat man sonst kaum irgendwo. Durch die Arbeit ist mir außerdem noch einmal bewusst geworden, wie viele Menschen eine Behinderung oder Vorerkrankung haben. Das sieht man im Alltag oft nicht. Meine Sichtweise auf Menschen und das Leben hat das auf jeden Fall zurechtgerückt.
Irgendwann wird Ihre Arbeit im Impfzentrum vorbei sein und Sie werden womöglich wieder in Ihren ursprünglichen Beruf zurückkehren. Was werden Sie aus dieser Zeit mitnehmen?
Ich werde bestimmt weiterhin viel darüber nachdenken, wie unterschiedlich die Menschen mit der Frage nach gerechter Verteilung umgehen. Zur Zeit bin ich aber sehr dankbar, dass ich nicht über die großen ethischen Fragen entscheiden muss, sondern praktisch und im Kleinen helfen kann. Das Arbeiten im Impfzentrum hat mir den Glauben an die Menschlichkeit in Zeiten der Krise zurückgegeben. Anfangs dachte ich, dass es zu vielen Konflikten im Impfzentrum kommen würde, doch die allermeisten Impflinge gehen so verständnisvoll miteinander um, und das über Generationen hinweg. Das ist wahnsinnig schön zu sehen. Die Atmosphäre ist überhaupt nicht vergleichbar mit dem Vordrängeln und Nörgeln morgens in der Bäckerschlange. Außerdem habe ich selten so viele Komplimente und nette kleine Aufmerksamkeiten bekommen wie hier. Ich hätte diese Dankbarkeit nie erwartet, aber ich begreife immer mehr, welche Rolle die Impfungen spielen: Wir geben den Menschen ein Stück Leben und Freiheit zurück und nehmen ihnen im Gegenzug Ängste und Unsicherheiten. Was kann es Sinnstiftenderes geben?