Reportage | Christina Felschen

Der Diktator nebenan

Published on Weißrussland ist die letzte Diktatur in Europa, die litauische Hauptstadt Vilnius nur 40 Kilometer von der Grenze entfernt. Weißrussische Bürgerrechtler nutzen Vilnius als Zufluchtsort und Schaltzentrale - doch die litauische Präsidentin pflegt gute Kontakte zum weißrussischen Despoten.

Weißrussland ist die letzte Diktatur in Europa,
die litauische Hauptstadt Vilnius nur 40 Kilometer von der Grenze
entfernt. Weißrussische Bürgerrechtler nutzen Vilnius als Zufluchtsort
und Schaltzentrale – doch völlig sicher fühlen sie sich nicht. Die
litauische Präsidentin pflegt gute Kontakte zum weißrussischen Despoten.

 

veröffentlicht in sechs Sprachen im Europamagazin Cafebabel.com vom 5. Januar 2012 >> und nominiert für den CEE Journalism Prize („Writing for Central and Eastern Europe“) 2012 >>

 

Die Zentrale liegt so versteckt, dass selbst der KGB sie noch nicht
gefunden hat: Wer ginge auch schon freiwillig die kilometerlange Reihe
von Plattenbauten und Industriebaracken entlang? Und selbst, wer am Ziel
ankäme, würde gleich wieder kehrt machen: Das Gebäude wirkt verlassen,
das Türschild ist verwittert, eine Klingel fehlt. Nur Eingeweihte kommen
über die Schwelle – und werden von hektischer Betriebsamkeit umfangen.
Gerade erklärt Olga Karatch, Leiterin der Menschenrechtsorganisation Nash Dom
[Unser Haus], zwei aus Minsk angereisten Mitarbeiterinnen die Strategie
für die kommenden Wochen. Zusammen mit 300 Freiwilligen verteilen sie
die Zeitung der Organisation im ganzen Land, 150.000 Exemplare – diese
Auflage erreichen sonst nur die Staatsmedien. Karatch klingt atemlos,
als könne sich die Zukunft ihres Landes in den nächsten Wochen
entscheiden – nach 17 Jahren der gefälschten Wahlen,
Verfassungsänderungen und politischen Verfolgungen.

Ihre ganze Jugend hat die 33-Jährige dem Kampf gegen den
weißrussischen Despoten geopfert. Bei ihrer Hochzeit war die Aktivistin
schon so bekannt, dass KGB-Mitarbeiter die Party beschatteten: “Die
hielten das für eine konspirative Versammlung.” Ihr Büro in Minsk war
lange Zeit ein beliebtes Ziel für Razzien des Geheimdienstes; während
eines Workshops im vergangenen April wurden 18 Leiter der Organisation
für mehrere Tage festgenommen und Olga Karatch geschlagen. “50 oder 100
Mal” sei sie bislang verhaftet worden, manchmal täglich, manchmal mit
der Drohung ihren Hund zu erschießen oder sie zu vergewaltigen. Die
junge Frau erzählt das so nüchtern als ginge es um eine
Heizkostenrechung: “Das ist lästig für unsere Organisation; all die
Solidaritätskampagnen und Anwälte können wir uns auf Dauer nicht
leisten.”

Seit sich die Proteste in Weißrussland zuspitzen – mit den Demonstrationen nach der Wahl am 19. Dezember 2010
und der “Stummen Revolution” im Sommer 2011 – gewinnt die
EU-Nachbarstadt als Schaltzentrale des Widerstands an Bedeutung: Neben
zahlreichen NGOs wurde hier auch die European Humanities University
(EHU) nach ihrer Verbannung aus Minsk neu eröffnet. Die Wahl der
Aktivisten fiel nicht zufällig auf die litauische Hauptstadt: Vilnius
ist der erste Vorposten der EU, 40 Kilometer hinter der weißrussischen
Grenze und von Minsk in drei Zugstunden zu erreichen. Und auch die
emotionale Nähe ist groß: “Wilnja” war im 19. Jahrhundert das kulturelle
Zentrum Weißrusslands, noch heute leben über 20.000 Weißrussen in der
Stadt.

Während Vilnius die Gegner Alexander Lukaschenkos beherbergt, unterhält die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaitė
rege wirtschaftliche und diplomatische Kontakte zum international
weitgehend isolierten Diktator – die Litauer danken es ihr mit hohen
Beliebtheitswerten. Weißrussland ist für das kleine, wirtschaftlich
darbende Litauen ein wichtiger Handelspartner. Doch wozu die Kooperation
mit dem Regime führen kann, zeigte sich im vergangenen August, als
Litauen Kontodaten des weißrussischen Menschenrechtlers Ales Byalyatski
freigab und so dazu beitrug, dass dieser zu viereinhalb Jahren Gefängnis
verurteilt wurde.

Ein Jahr nach den hoffnungsvollen – und folgenlosen – Massenproteste
in Minsk fühlen sich die Bürgerrechtler wie Sisyphos; nur ihr
Galgenhumor rettet sie vor der Resignation. Karikaturen von Lukaschenko
machen die Runde. Als einer jungen Übersetzerin das Wort für “Wahlen”
nicht einfällt, witzelt sie: “Kein Wunder, ich habe ja auch noch keine
erlebt.” Sie wissen: So lange Russland Lukaschenko finanziell
unterstützt, werden die Weißrussen ihr Schicksal tragen statt sich zu
erheben.

Selbst die Exiluniversität EHU, einst Bastion des politischen
Widerstands, scheint im Dornröschenschlaf zu liegen. Höchstens fünfzehn
Prozent der Studenten seien noch politisch aktiv, schätzt Kasia
Stsiapanava, die im vierten Jahr Journalismus studiert und sich nebenbei
als Wahlbeobachterin und Sprecherin des Belarusian Human Rights House
engagiert. Gerade jüngere Studenten, die schon zu Lukaschenkos Zeiten
geboren sind, kämen oft nur noch wegen der besseren Karriereaussichten.

Gerüchte machen die Runde. Der KGB heuere Studenten an, damit diese
über ihre Kommilitonen berichten. Stsiapanava nickt: “Das halte ich
durchaus für wahrscheinlich.” Heiligabend vor einem Jahr wurde sie
selbst an der Grenze festgenommen und in eine Verhörzelle des KGB
gesteckt. “Die Beamten haben versucht mich auszufragen: Ob
Oppositionskandidaten uns Studenten aufgefordert hätten, zur
Demonstration in Minsk zu gehen. Ob ich eine ‘schlechte’ oder eine
‘gute’ Wahlbeobachterin sei.” Auf den ersten Blick wirkt Stsiapanava
zart und verletzlich, kindlich fast – ein leichtes Opfer, müssen die
Grenzer gedacht haben.Doch wie sie irrten! Als Tochter systemkritischer
Journalisten war Kasia Stsiapanava auf eine mögliche Festnahme
vorbereitet; schon auf dem Weg ins Verhör gab sie ihren Eltern ein
Handyinterview, das live übertragen wurde. Im Nu kehrte sich die
Situation um: Ihr Vater drohte den KGB-Agenten am Telefon; andere
Journalisten berichteten über den Fall und stärkten der 21-Jährigen den
Rücken. Nach vier Stunden kam Stsiapanava frei, um eine Erkenntnis
reicher: “Der KGB besteht auch aus Menschen – und manche sind dümmer als
man glaubt. Wenn ich jetzt über die Grenze fahre, sehe ich jedes Mal
die Männer wieder, die mich letztes Jahr festgenommen haben. Ich sehe,
wie sie etwas zu lange in meinem Pass blättern, sehe, wie sie mich
wiedererkennen und wie ihnen die Schamesröte ins Gesicht steigt.”

Es ist kalt geworden in der neuen Zentrale von Nash Dom, fröstelnd
vor Übermüdung halten sich die Mitarbeiter an ihren Teetassen fest, wie
zur Beruhigung fährt Olga Karatch sich immer wieder mit einem Kamm durch
den gekämmten Pony. Hinter einem Chaos aus Zetteln, Teeschachteln und
Flyern glitzert eine Plastiktanne im Neonlicht. Ob sie Weihnachten zu
Hause verbringen kann, weiß Karatch noch nicht. Das Jahr des Arabischen
Frühling endet mit einem Weißrussischen Winter.

 

via cafebabel.com