interview | Elena Matera

„Das Virus ist der radikalste Entschleuniger unserer Zeit“

Hartmut Rosa ist einer der führenden deutschen Soziologen und Zeitforscher. Er wurde bekannt mit seiner Theorie der modernen Beschleunigung. Der 54-Jährige lehrt Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und ist Direktor des Max-Weber-Kollegs der Universität Erfurt. Es ist historisch beispiellos, dass die Moderne, die permanent von Beschleunigung lebt, sich jetzt selbst so radikal entschleunigt.

Hartmut Rosa ist einer der führenden deutschen Soziologen und Zeitforscher. Er wurde bekannt mit seiner Theorie der modernen Beschleunigung. Der 54-Jährige lehrt Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und ist Direktor des Max-Weber-Kollegs der Universität Erfurt.

Es ist historisch beispiellos, dass die Moderne, die permanent von Beschleunigung lebt, sich jetzt selbst so radikal entschleunigt. Es ist, als hätte sie gewaltige Bremsen angelegt. Das eigentlich Faszinierende ist, dass wir uns diese Bremsen selbst anlegen. Es ist ja nicht so, dass das Virus unsere Flugzeuge zerfrisst. Wir schränken uns selbst als Vorsichtsmaßnahme ein – das ist schon sehr bemerkenswert.

Der Soziologe Hartmut Rosa über die Zwangsentschleunigung durch die Coronavirus-Pandemie. Foto: Martin Schutt / dpa [Epidemiologe warnt vor noch schärferen Maßnahmen: „Gibt keinen Grund, das ganze Land in häusliche Quarantäne zu schicken“]

Meine These ist, dass wir es immer darauf anlegen, unsere Weltreichweite zu vergrößern: immer schneller, weiter. Im Moment schrumpft die räumliche Reichweite für die allermeisten Menschen auf die Wohnung. Und auch zeitlich weiß keiner, wie es in ein oder zwei Wochen aussieht.Das Virus ist der Inbegriff einer monströsen Unverfügbarkeit.

Können Sie das genauer erklären? Wir versuchen unsere Welt komplett kontrollierbar, vorhersehbar, erreichbar zu machen. Komischerweise hat dieser Versuch die Tendenz, die Unverfügbarkeit monströs wiederkehren zu lassen. Das erleben wir gerade mit dem Virus. Es ist neu, wir wissen nicht genau, wo es herkommt, wie es sich verhält, wie wir es medizinisch in den Griff bekommen.

Wir können es politisch nicht steuern, rechtlich nicht regulieren und es hat wirtschaftlich unvorhersehbare Konsequenzen. Wir können es nicht sehen, nicht hören, nicht riechen. Es entzieht sich unserer Alltagswahrnehmung. Und die Gesellschaft reagiert so, wie man es erwarten könnte. Sie versucht, die Verfügbarkeit krampfhaft wiederherzustellen.

Jetzt gibt es diese Ungewissheit, dass der Laden vielleicht morgen zu hat. Wir machen die Erfahrung, dass eben nicht alles verfügbar ist und wir müssen jetzt lernen, damit umzugehen. Aber wir sind zurzeit immer noch in dem Modus, den wir gewohnt sind.

Deswegen glaube ich schon, dass Menschen momentan Defiziterfahrungen haben, sogenannte Entfremdungserfahrungen. Entfremdung ist eine Störung in unserer Beziehung zur Welt. Und die können wir jetzt kollektiv wahrnehmen. Wir bauen ein Misstrauen auf. Die Türklinken, das Geländer, all das könnte verseucht sein. Man darf Menschen nicht mehr umarmen, wir misstrauen ihnen. Die Weltbeziehung ist dadurch gestört.

Ich glaube, wir sollten individuell und kollektiv versuchen, in diesen zweiten Modus zu kommen. Wir sind in dieser neuen Situation mit uns selbst in unserem Haus oder in der Wohnung, vielleicht mit der Katze – mit unserem Leben. Es kann eine Chance sein, dass dadurch neue Muster des Zusammenseins entstehen.

Ein Beispiel ist das Musizieren auf den Balkonen, wie es in Italien stattfindet. Wir finden eine neue Weise des In-der-Welt-Seins. In der gesellschaftlichen Krisensituation liegt daher vielleicht auch eine Chance.

Plötzlich guckt man intensiv aus dem Fenster und sieht die ersten Blüten oder man nimmt die Nachbarn wieder intensiv wahr. Ich nenne das Resonanz, ein Modus des Hörens und Antwortens. Meine Hoffnung, dass es vielleicht auch ein Moment des kollektiven Innehaltens sein kann und wir jetzt über die Art und Weise nachdenken, wie wir uns in der Welt bewegen.

Menschen sind ja auch auf Kontakte geeicht. Soziale Beziehungen sind eine der vier Achsen der Resonanzbeziehungen. Die fällt jetzt weg, weil wir uns nicht mehr umarmen oder treffen können. Diese Krise gibt uns allerdings die Chance, die anderen drei Resonanzachsen wieder zu entdecken.

Die eine ist die Beziehung zu Dingen, etwa zum Klavier oder Pinsel. Dann gibt es noch die Achse der existenziellen Sphären, also Kunst, Natur, Religion. Und die letzte Achse ist die Selbstachse: sich selbst zuspüren, wahrzunehmen. Die Entschleunigung wirkt sich auch auf die Natur aus. Die Kanäle in Venedig sind wieder klar, die ersten Delfine wurden vor Sardinien gesichtet.

Und es hat bisher Null Effekt darauf, wie wir leben und handeln. Ich bin auch deswegen skeptisch, weil wir diesen Steigerungszwang haben. Die institutionelle Logik der Gesellschaft ist so, dass sie das, was sie hat, also Renten,Gesundheit, Einkommen, Arbeitsplätze, nur erhalten kann, wenn sie sich permanent steigert. Wir können daher jetzt nicht einfach sagen: Es ist genug.

Vermutlich wollen wir danach das Wachstum wieder ankurbeln. Leute sollen konsumieren, Geld ausgeben, produzieren – zurück in die Beschleunigung. Aber vielleicht gibt es doch eine Hoffnung, dass es ein Umdenken gibt. Wir sollten die Krise nicht nur als Zwangsentschleunigung erleben, sondern vielleicht auch als kollektives Innehalten.

Es ist nur schwer zu sagen, was dabei herauskommt und was es mit uns macht. Meine Hoffnung am Anfang war, dass diese Zwangsentschleunigung eine super Erfahrung ist. Aber wenn ich mit anderen Menschen rede, dann merke ich, es fühlt sich bei Weitem nicht so gut an.

via www.tagesspiegel.de