Cybermobbing nimmt während Corona zu
„Corona hat Täter*innen hervorgebracht, die vorher gar keine waren“
Lästern im WhatsApp-Chat, Drohungen über falsche Social-Media-Profile: Die Anzahl der von Cybermobbing betroffenen Kinder und Jugendlichen ist seit 2017 um ein Drittel gestiegen, zeigt eine Studie der Techniker Krankenkasse. Corona hat das Problem verschärft. Woran liegt das? Darüber haben wir mit Antje Minhoff, Gründerin der Bildungsinitiative Du bist smart!, gesprochen.
ze.tt: Frau Minhoff, wie sehen typische Formen von Cybermobbing aus?
Antje Minhoff: Die softesten Formen von Cybermobbing sind Beleidigungen, das Verbreiten von Gerüchten und peinlichen Videos und Bildern im Netz, vor allem auf Social Media. Das kann sich steigern bis hin zu Cyberthreats, also dem virtuellen Androhen von Gewalt, oder dem Auftreten unter einer falschen Identität, wenn ich mir zum Beispiel ein Fake-Profil anlege.
ze.tt: Welche Folgen kann Cybermobbing für Kinder und Jugendliche haben?
Minhoff: Cybermobbing belastet die Betroffenen psychisch sehr. Viele sind wütend, verletzt und verzweifelt, fühlen sich macht- und hilflos. Als Folge wollen Betroffene oft nicht mehr zur Schule gehen, bekommen körperliche Beschwerden wie Kopf- oder Bauchschmerzen oder können nicht mehr richtig schlafen. Es kann auch sein, dass die Schulleistung plötzlich abnimmt, weil sich der oder die Betroffene weniger konzentrieren kann. Das kann sich bei Kindern, Jugendlichen, aber auch Erwachsenen bis hin zum Suizid steigern.
ze.tt: Ab welchem Alter beginnt Cybermobbing?
Minhoff: Aus unserer Erfahrung ist das Einstiegsalter von Cybermobbing-Opfern und -Täter*innen verbunden mit dem ersten Handy – und der Unaufgeklärtheit der Eltern. Natürlich bedeutet das nicht automatisch, dass jede*r Handybesitzer*in zum*zur Cybermobbing-Täter*in wird, schließlich braucht das heute fast jede*r aus organisatorischen Gründen. Wir beobachten, dass Cybermobbing bereits unterschwellig ab der Grundschule losgeht. Zum Beispiel in WhatsApp-Gruppenchats, in denen Kinder übereinander lästern, gemeine Spitznamen vergeben oder jemanden gezielt ausgrenzen. Der Handyzugriff beginnt nun mal immer früher und sobald die Kinder unkontrolliert im Internet surfen, kann es gefährlich werden. Da können Eltern und Lehrer*innen leider oft nicht eingreifen, weil sie meistens nicht auf den gleichen Plattformen wie die Kinder unterwegs sind und diese sich für ihre Eltern zum Teil schämen, wenn sie Instagram oder Ähnliches benutzen.
ze.tt: Laut einer Studie der Techniker Krankenkasse gibt es seit Beginn der Pandemie mehr Fälle von Cybermobbing. Wie erklären Sie sich das?
Minhoff: Corona hat Täter*innen hervorgebracht, die vorher gar keine waren. Ein hoher Prozentsatz der jetzigen Täter*innen sind Gelegenheitstäter*innen. Vor allem Videokonferenzen kreieren eine Steilvorlage. Zwar werden die Chatfunktionen von den Lehrbeauftragten überwacht, aber trotzdem können die Schüler*innen sehen, wie es bei den anderen daheim aussieht. Wenn da einer das Zimmer noch mit seinen Geschwistern teilt oder der Vater mit dem Bier auf der Couch sitzt, verführt das Mitschüler*innen zu Sticheleien, die immer bösartiger werden können. Dazu kommen Probleme mit dem Datenschutz, die von Täter*innen ausgenutzt werden, wie das Leck in der HPI Schul-Cloud. Da wurden handschriftlich bewertete Test und Übungsblätter der Schüler*innen veröffentlicht, teils mit Namen und Noten – oder auch Videos, in denen Schüler*innen in ihrem heimischen Wohnzimmer Gedichte vortragen. Der Präsenzunterricht fällt weg, der Freizeitsport, das Freund*innentreffen – dadurch fehlt den Kindern und Jugendlichen die Ablenkung. Vor allem der Lockdown setzt den Schüler*innen zu, da wird die Zeit meistens nur mit surfen und Netflix schauen verbracht. Durchschnittlich hängen Kinder circa zwei bis drei Stunden am Tag am Handy. Die Sonderbefragung der JIMplus Corona hat ergeben, dass die Mediennutzung von Schüler*innen seit 2019 um eine Stunde gestiegen ist. Das ganze Daheimrumsitzen führt natürlich zu Langeweile und angestauten Emotionen.
ze.tt: Fehlende Beschäftigung und Langeweile führen also zu stärkerem Cybermobbing?
Minhoff: Nicht nur, aber unter anderem. Verlustängste und Druck in der Schule spielen eine große Rolle. Die Angst, dass sich zum Beispiel Freundschaften auflösen oder man es zu Hause nicht hinbekommt, mit dem Schulstoff mitzuhalten. Meistens sind die Täter*innen selbst in einer Notlage, weil sie unzufrieden oder verzweifelt sind und ihnen keiner zuhört. Weil sie zu Hause keine Liebe und Aufmerksamkeit bekommen, suchen sie sich ein Ventil und geben ihre Wut weiter. Wegen Corona spielt sich unser Leben gerade vorwiegend in unseren vier Wänden ab. Es gibt kaum noch Distanz, keinen Ort, wo man sich abreagieren kann, keine Freund*innen oder Vertrauenslehrer*innen, denen man in Person von seinen Sorgen erzählen kann. Das kann eine sehr große Belastung sein.
…
via www.zeit.de