article | Madeleine Londene

Corona – Geschichte eines angekündigten Sterbens

Was Ende Dezember 2019 mit Warnungen eines Augenarztes in Wuhan begann, ist in kürzester Zeit zur globalen Pandemie geworden. SARS-CoV-2 ist ein gefährliches Virus, leicht übertragbar, tödlich, aber noch mehr ist Covid-19 der Katalysator einer globalen Umwälzung, die alle Gesellschaften und Wirtschaftssysteme ihrer Gewissheiten beraubt und ihre Existenz bedroht.

Ein Team von Medizinern, Wissenschaftlern und Reportern, unter ihnen viele preisgekrönte Journalisten, recherchiert auf den Spuren des Virus, recherchiert, wie es vom Tiermarkt im mittleren China rund um den Erdball jagt und eine Spur der Verwüstung hinter sich herzieht.

Sie gehen der Frage nach, warum Regierende zum dritten Mal nach der Klimakrise und der Migrationskrise scheitern an der Aufgabe, aus Studien und Warnungen eine vorausschauende Politik zu entwickeln. Und die Autoren geben Antworten auf die Frage, wie die Menschheit doch noch die Pandemie in den Griff bekommen kann.

25. Februar, New Orleans

Als Kind half Brian Sims seiner Mutter Kokosnüsse mit Glitzer zu verzieren, um sie
bei der Parade in die tanzende, feiernde Menschenmenge zu werfen. Niemals
hätte er gedacht später einmal König zu sein: Zulu-König1. Brian Sims lebt den
amerikanischen Traum. Heute, am 25. Februar, dem Tag seiner Krönung, dem
Höhepunkt von Mardi Gras in New Orleans, darf er machen, was er will.

So steht er mit schwarzbemaltem Gesicht auf dem Paradewagen, umgeben von
Blasmusik und schwenkt sein goldenes Zepter durch die Luft. Auf seinem Kopf eine
Krone, bestückt mit rubinroten Steinen, hinter ihm ein pfauenartiges Rad aus
Federn. Zu seiner rechten und linken Seite lebensechte Leoparden aus Plastik, das
Maul weit aufgerissen. Die Menschen am Straßenrand singen und brüllen,
während der Umzug durch die Bourbon Street rollt. Seine Kollegen werfen der
Menge vom Wagen aus Ketten und Kokosnüsse zu.

Wenige Wochen später werden acht von ihnen tot sein.

1,4 Millionen Besucher sind dieses Jahr aus der ganzen Welt angereist, um auf den
Straßen New Orleans gemeinsam Mardi Gras zu feiern, zu Blues Musik zu tanzen
und teure Ketten abzufangen. Nun ist Orleans die Gemeinde mit den meisten
Todesopfern pro Einwohner von allen Landkreisen in den USA. Niemand dachte,
dass ein Straßenfest sich zu einem Corona-Treibhaus entwickeln würde. Doch man
hätte es wissen können. Man wusste es.

Januar: Monat der fatalen Fehler

Mitte Januar. Die Karnevalssaison beginnt nach Weihnachten. An die Kostüme
werden die letzten Perlen genäht, grün-lila-gold farbige Ketten besorgt. Alle Mardi
Gras Paraden sind bereits ausverkauft. In einer Email2 – es ist bereits der 27. Januar
– besprechen Verwalter aus Medizin und Gesundheit, dass sie sich „vielleicht mal
treffen sollten, um eine mögliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit während
des Karnevals“ zu diskutieren. Weltweit sterben bereits Menschen. Betten auf
Intensivstationen, Masken und Beatmungsgeräte werden knapp. Bundesweit sind
in den USA bis zu Beginn der Umzüge Mitte Februar unter zwanzig Fälle bekannt.
Doch die Experten stufen das Virus und das Straßenfest als „low risk“ ein. Und
schicken somit viele Teilnehmer in den sicheren Tod.

„Die Wahrscheinlichkeit, dass wir jemanden mit Coronavirus bekommen, ist
gering“ versicherte Sarah A. Babcock, Direktorin für Politik und Notfallversorgung
des städtischen Gesundheitsamtes in einer internen Email, die das Brown Institute
für Medien Innovation der Columbia Universität an die New York Times
weiterleitete. Der darauffolgende Emailverkehr von 2.200 Seiten gewährt Einblicke
in die Arbeitsweise der zuständigen Sachbearbeiter. Deren Fehleinschätzungen,
Fahrlässigkeit und Ignoranz.

Dr. Jennifer Avegno, Direktorin der Gesundheitsbehörde von New Orleans –
schulterlange braune Haare, eckige Brille – nannte als Grund dafür die
Konzentration auf Besucher, die das Virus aus dem Ausland mitbringen könnten.
Bisherige Vorsichtsmaßnahmen beschränkten sich insbesondere auf den

Der Zulu Social Aid und Pleasure Club ist eine Bruderschaft von etwas 800 Männern. Fast alle von ihnen sind schwarz.
Gemeinnützige Arbeit, Bürgerstolz, schwarze Spitzenleistung stehen auf deren Agenda – allen voran: die Karnevalsparade.

Flugverkehr, weniger auf die Gemeinde und das Alltagsleben der Menschen in
Louisiana.

„We have it very much under control in the country“ twitterte der amerikanische
Präsident am 23. Februar, zwei Tage vor dem großen Umzug. Generalchirurg und
Vizeadmiral Jerome Adams tut es ihm gleich: „Rosen sind rot / Veilchen sind blau /
Risiko ist gering für das #Coronavirus / Aber hoch für die #Grippe.“ Ein Vergleich
mit verheerenden Folgen. Das Virus vermehrt sich, Menschen brüten. Zwei
Wochen später steht Louisiana vor einem Kollaps.

Pastor im Irrglauben

Pastor Landon Spradlin, schwarze Baseballcap, Sonnenbrille und Truckerbart, steht
auf einer Tribühne der Bourbonstraße und streicht über die Seiten seiner Gitarre.
Eine Gospelversion von „Let it Rain“. Er fühlt sich lebendig wie noch nie, die Sonne
scheint, die Karnevalsmasse schwingt zum Takt seiner Musik. Als er am Abend
seine Gitarre einpackt ahnt er nicht, was ihm und seiner Frau bevorsteht.

„Die Medien sorgen für Massenhysterie“ schrieb er noch auf seiner facebook
Seite: „Gott heilt alles“. Eine Woche später plagen Spradlin Hustenattacken – so,
wie jedes Jahr nach all den Gesprächen und Gebeten mit unzähligen Fremden,
denkt sich seine Frau. Doch das Keuchen in den Tagen nach dem Karneval nimmt
zu. Auch seine Frau bekommt Fieber und Kurzatmigkeit.

Auf dem Weg zum Krankenhaus bricht Spradlin an einer Raststätte auf dem Boden
zusammen. Seine Frau hievt seinen schweren, schlaffen Körper in den weißen Ford
F-250. Auf der Intensivstation wird er unmittelbar intubiert. Die letzten Worte zu
seiner Frau: „I’m sorry. I love you“.

Seine Tochter durfte ihn sechs Wochen lang nicht sehen. Sie und ihre Mutter
konnte sich nicht von ihm verabschieden. Am 25. März nimmt Spradlin seinen
letzten Atemzug – und stirbt alleine in einem Krankenhaus in North Carolina.

Der Ausbruch

Am 9. März meldet Louisiana seinen ersten mutmaßlichen Covid-19 Fall in der
Nähe von Jefferson Parish. Der Staat Louisiana beginnt langsam Besucher zu
tracken, versucht Infektionsketten nachzuverfolgen. Einen Tag später sagt New
Orleans alle Straßenfeste ab.

Trump vergleicht das Virus weiterhin mit einer Grippe, unterstellt der
demokratischen Partei die Verbreitung von fake News. Die amerikanische
Regierung hat versagt. Sie hätte mit klaren Warnungen Leben retten können: „Der
Präsident sagte, dies sei keine große Sache. Niemand in der Bundesregierung hat
eine rote Fahne gehisst“ so ein Besucher.

Am 16. März verhängt Louisiana eine strenge Ausgangssperre. Bars, Fitnessstudios,
Kinos, Clubs – sie alle müssen schließen. „Ich kann mir nichts Schlimmeres
vorstellen, als die Kneipen in New Orleans dicht zu machen“ sagt Dr. Avegno in
einem Interview.

Ein Monat ist vergangen seit Mardi Gras. Es ist der 23. März. Kein Trommeln und
Trompeten, kein Gelächter oder Gesang ist in den Straßen von New Orleans zu
hören. Eine Stadt ohne Klang. Sie ist verstummt. Stille, Krankheit und Tod halten

die Menschen hinter ihren Türen gefangen. Louisiana meldete am Morgen 10.500
Corona Fälle. Und 840 Tote.

Tödliche Ungleichheit

Am 6. April veröffentlicht Louisiana eine Covid-19 Datenliste, die Infektionen und
Todesfälle nach Rasse sortiert. Die Ergebnisse sind erschreckend: Nur 33 Prozent
der Bevölkerung sind Schwarz, machen aber 70 Prozent der Toten aus. Die Daten
des Gesundheitsministeriums von Louisiana zeigen, dass Nachbarschaften und
Gemeinden mit einer hohen Zahl schwarzer Einwohner am stärksten von Corona
betroffen sind3. In New York, dem Staat der landesweit die höchste Zahl an
Infizierten aufweist, sterben Schwarze doppelt so häufig wie Weiße.

95% der Covid-19 Verstorbenen weisen Vorerkrankungen auf: Fettleibigkeit,
Diabetes, chronische Nierenprobleme, Herzversagen. Corona ist nicht nur eine
Gefährdung für die schwarze Gemeinde in Louisiana, sondern ein
ernstzunehmendes Problem für die gesamten Vereinigten Staaten.

Die USA ist das fetteste Land der Erde. Louisiana zählt zu den zehn ärmsten4 und
dicksten Bundesstaaten: 18,6 Prozent der Bewohner liegen unter der
bundesweiten Armutsgrenze, 63,6 Prozent der erwachsenen Menschen dort sind
übergewichtig.

Die Zulu Gemeinde wurde von einer Welle überrollt. Viele der Verstorbenen litten
an Vorerkrankungen, kamen aus niedrigen Gesellschaftsschichten, hatten keine
Arbeit mit Krankheitstagen und konnten nicht von zu Hause arbeiten. Addiert man
zu diesen Umständen das Virus hinzu ergibt sich ein unaufhaltsamer Tsunami – der
vor allem benachteiligte Menschen trifft.

We have it under control

„Ich glaube, wir alle dachten, dass dies, offen gesagt, kein großes Thema sein
würde, und dann begann ein exponentielles Wachstum“ sagt Dr. Carlos del Rio,
Vorsitzender der Hubert-Abteilung für Globale Gesundheit an der Rollins School of
Public Health der Emory Universität. Er und seine Kollegen lagen falsch.

Anfang April gab es einen 42 prozentigen Anstieg in Fällen. Mittlerweile
verzeichnet Louisiana 29.637 bestätigte Corona Fälle und 1.991 Tote. Damit hat
der Staat bundesweit, mit 638 Fällen pro 100.000 Einwohnern, die 11. höchste
Infektionszahl. Die Gemeinde Orleans Parish, mit seinen knapp 400.000
Einwohnern hat die 6. höchste Rate an Coronavirus Fällen. Gesprochen wird
darüber allerdings nicht. New Orleans steht im Schatten des Big Apple – und liegt
schwer auf dem Gewissen der Verantwortlichen.

Wer einen Corona Test in Louisiana macht, muss nicht selten bis zu 10 Tage auf die
Ergebnisse warten. Oft ist es dann bereits zu spät. Grund hierfür ist, dass mehr als
90 Prozent der Testergebnisse aus kommerziellen Laboren stammen. Diese
brauchen wegen fehlenden Kapazitäten mehr Zeit für die Auswertung. Die
Regierung möchte nun Massentests in Gefängnissen und Altenheimen einführen. Zu ähnlichen Zahlen kam der Bundesstaat Michigan, in dem 14% von schwarzer Hautfarbe sind, aber 40 Prozent der
Todesfälle verzeichnen3 oder Wisconsin, wo sieben Prozent der Bevölkerung schwarz sind, aber 33 Prozent der Todeszahlen
verbucht.

Der König ist tot – lang lebe der König

Wäre er zu einem anderen Zeitpunkt gestorben, hätte Larry Arthus Hammond eine
Beerdigung gehabt, die einem Zulu-König zusteht. Der halbe Friedhof wäre
bedeckt von Trauernden, eine Band würde Dixieland-jazz spielen, ein Gospelchor
singen. Doch heute sind nur zehn maskierte Menschen im Bestattungsinstitut. Ein
Bild von Hammond in weißem Jackett, schwarzer Fliege und gelb-grüner Zulu-
Schärpe steht neben einer Pumpe mit Desinfektionsmittel.

Seine Frau sitzt auf einem Stuhl mit zwei Meter Abstand zu den anderen und
weint. Keiner kann sie in den Arm nehmen. Ein Mikrophon, das Mundstück
umwickelt von Plastik, ist auf ein Handy gerichtet: Familie und Freunde werden
über Lautsprechermodus zugeschaltet. Hunderte andere Mitglieder der
afroamerikanischen Bruderschaft und Paradegruppe müssen zuhause um ihren
König weinen, der an Covid-19 gestorben ist.

Hätten die Behörden in New Orleans es verhindern können? Müssen? Konnten sie
es kommen sehen? Später wird jemand zu Protokoll geben: „Ich denke, die
Bürgermeisterin wäre hingerichtet worden, wenn sie gesagt hätte: ‚Lasst uns den
Karneval absagen‘.”

28. April, Michigan

Breitbeinig stehen sie vor der Parlamentskammer in Lansing, Michigan.
Sturmhauben bedecken die Gesichter der Männer und Frauen,
Maschinengewehre in ihren Händen. Tausende Demonstranten
versammelten sich mit Schildern und Flaggen am Donnerstag, den 28. April,
vor dem Kapitol. Einige von ihnen drangen bis in das Gebäude vor. Sie
fordern nach einer Aufhebung der Ausgangsbeschränkung, wenn nötig, mit
Waffen und Gewalt.1

Seit über zwei Monaten ist Michigan wegen der Pandemie im Lockdown. Bis
Mitte Mai wollte die Gouverneurin der Demokraten, Gretchen Whitmer,
den Hausarrest in Michigan verlängern. Vielen missfällt dieser Beschluss.

30 Millionen Menschen meldeten sich in den USA in den vergangenen sechs
Wochen arbeitslos, über eine Millionen sind mit dem Corona Erreger
infiziert, 71.000 deshalb tot. Viele Amerikaner sind wütend. Sie haben
Angst. Existenzangst. Einige Politiker, Aktivisten und Medien füttern diese
unsichtbare Bedrohung, schüren die Ängste der Bevölkerung – und nutzen
die Krise zu ihren Gunsten aus.

Losgetreten wurde der Protest in Lansing von zwei an die Republikaner
angeschlossenen, gemeinnützigen Organisationen: der Michigan
Conservative Coalition (MCC) und Michigan Freedom Fund (MFF). In einem
Facebook Post rufen sie mit ihrer „Operation gridlock“ die Bevölkerung
dazu auf, die Stadt durch Proteste lahm zu legen. Ihr Ziel: einen
Verkehrskollaps2 provozieren, die Straßen verstopfen, Zugänge zu
Krankenhäusern blockieren, das Parlamentsgebäude belagern. Und damit
die Politik unter Druck zu setzen.

Beide rechte Lobbygruppen weisen Verknüpfungen zum Präsidenten auf:
Der MFF erhielt über die vergangenen Jahre mehr als 500.000 Dollar von
der Familie Betsy DeVos, Donald Trumps Bildungsministerin3. Eine
„Spende“, so DeVos.

Auch rechtsextreme Gruppen wie „Proud Boys“, ein Verein
neofaschistischer Patrioten, und andere selbst ernannte, bewaffnete
Milizen schließen sich dem Protestaufruf an. Bundesweit fordern sie
Menschen auf für ihre Freiheit einzustehen. Denn in ihren Augen
übertrumpfen individuelle Wünsche das kollektive Wohl.

In den Protesten sehen insbesondere rechte Gruppen eine Chance, ihre
Ideen weiter zu verbreiten, Beziehungen zu Politikern aufzubauen und
mediale Aufmerksamkeit zu erreichen. Die Massendemonstration von
Michigan – der ideale Ort ein mindestens genauso gefährliches Virus
einzupflanzen: rassistisches Gedankengut.

Am Tag vor den Protesten am 28. April warb FOX News, US-amerikanischer
Nachrichtensender und Sprachrohr des Präsidenten, für die Facebookseite
„Michiganders Against Excessive Quarantine4“. Jeanine Pirro,
Nachrichtensprecherin von Fox News, lobt darin einen der Organisatoren:
„Viele Menschen sind sehr stolz auf euch.“ Ein Tag nach der
Veröffentlichung der Sendung zählt die Facebookgruppe 80.000 neue
Anhänger.

„Wir können uns nicht länger vor dem Virus verstecken“ schreibt einer der
Mitglieder auf der Facebookseite. Viele von ihnen teilen seine Ansicht – und
beschließen gemeinsam auf die Straße zu gehen. Blind, dass sie sich selbst
und ihre Mitmenschen damit einer gesundheitlichen Gefahr aussetzen.

Und den US-Präsidenten scheint es nicht zu stören.

Nur wenige Minuten, nachdem Fox eine Geschichte über die Proteste
ausgestrahlt hatte, rief Trump in einem Tweet dazu auf, demokratisch
regierte Staaten von ihren Gouverneuren zu „befreien“5: Die verhängten
Maßnahmen von Michigan wären „zu hart“, Menschen bekämen einen
„Lagerkoller“.

Viele konservative US-Amerikaner leiten aus seinen Aussagen ab, sich auf
den zweite Verfassungszusatz zu berufen – dem weitgehend
uneingeschränkten Recht Schusswaffen zu besitzen: Ihre Freiheit, ihr Leben
scheint in Gefahr und muss verteidigt werden.

Michigan zählt zu den US-Bundesstaaten, in denen es Privatpersonen
erlaubt ist, offen Schusswaffen zu tragen. Auch im Parlament.

„Direkt über mir, Männer mit Gewehren. Sie schreien uns an. Ein paar von
uns tragen kugelsichere Westen.“ twitterte Sen Polehanki, Staat Senator
von Michigan, während er im Kapitol mit seinen Kollegen festsitzt.
Hunderte Menschen mit geladenen Waffen haben das Gebäude umzingelt,
belagern das Foyer im Parlamentsgebäude. Was, wenn die Situation
eskaliert?

Ein Truck mit menschengroßen „TRUMP UNITY“ Pappbuchstaben auf dem
Anhänger parkt auf dem Seitenstreifen vor dem Parlamentsgebäude. Aus
den Fenstern hängen ein Dutzend amerikanische Flaggen. Auf einer
Tribühne neben der Straße stehen Mitglieder der American Patriot Rally in
Camouflage Anzügen, Maschinengewehre baumeln um ihre Schulter. „Ich
glaube den Beschluss haben sie sich aus ihrem Arsch gezogen“ schreit ein
Mann mit Sonnenbrille und Cowboyhut ins Mikrophon. Die Masse grölt und
nickt, ihre Fäuste schnellen in die Luft. Eng stehen sie in einem Haufen
beieinander. Fast keiner trägt eine Maske.

„Lockdown ist kein Virus. Es geht um Kontrolle“ steht auf einem Pappschild,
das eine Frau in America-Jumpsuit mit beiden Armen in die Luft hebt: „Es
gibt keinen Notfall. Lebe frei – oder sterbe“ auf dem ihrer Nachbarin.
„Sperrt sie ein“ schreien die Demonstranten im Chor und fordern nach
einer Festnahme der Gouverneurin. Ein Mann schwenkt die konföderierte
Flagge, verteilt mit seinen bloßen Händen Süßigkeiten an Kinder.

Michigan hat Glück: Die Demonstrationen verlaufen ohne Zwischenfall.

„Dies sind sehr gute Leute, aber sie sind wütend“ twitterte Trump am Tag
darauf und fordert Whitmer auf, das Gespräch mit den Demonstranten zu
suchen. „Ich verstehe eure Wut und Enttäuschung. Es ist traurige Ironie,
aber die Proteste führen nur zu einer Verlängerung der Beschränkungen“
entgegnet die Gouverneurin. Rot gegen blau.

Der Epidemiologe Eric Feigl-Ding6 warnt vor einem erneuten Anstieg der
Coronafälle in zwei bis vier Wochen nach den Protesten. Weitere 100
derartiger Proteste sind in 32 Staaten der USA in den kommenden Tagen
und Wochen geplant.

„Die Szenen vor dem Kapitol waren verstörend“ sagt Whitmer in einer
Pressekonferenz wenige Tage nach den Demonstrationen: „Hakenkreuze
und konföderierte Flaggen, Schlaufen und automatische Gewehre
repräsentieren nicht das, was wir als Michigander sind.“ Die Bilder, die sich
aus den Protesten der vergangenen Tage zugetragen haben, sprechen nicht
für die gesamte Bevölkerung der USA, offenbaren sie doch ihre Probleme:
Eine gespaltene Gesellschaft.

via www.dtv.de