Reportage | Christina Felschen

Am Zaun des Todes

Wer Jim und Sue Chilten auf ihrer Ranch besucht, blickt zuerst in die Augen eines Berglöwen. Ein elegantes Tier, die Beine ausgestreckt wie im Sprung. Doch der Puma springt nicht mehr, er dekoriert das Foyer seiner Jäger. "Er hat uns Vieh im Wert von 20.000 Dollar gestohlen", sagt Sue und lacht: "Das war sein Todesurteil."

In der Grenzwüste zu Mexiko sterben fast täglich Migranten, selbst
Trump-Wähler sind gegen die Mauer. Viele Bewohner ziehen weg, einige
helfen den Menschen aus dem Süden.

 

Wer Jim und Sue Chilten auf ihrer
Ranch besucht, blickt zuerst in die Augen eines Berglöwen. Ein elegantes
Tier, die Beine ausgestreckt wie im Sprung. Doch der Puma springt nicht
mehr, er dekoriert das Foyer seiner Jäger. „Er hat uns Vieh im Wert von
20.000 Dollar gestohlen“, sagt Sue und lacht: „Das war sein
Todesurteil.“

 

Jim und Sue Chilten wohnen in Arivaca, Arizona,
zehn Meilen von der mexikanischen Grenze entfernt. Hier gilt das Recht
des Stärkeren, und die Stärkeren sind im Zweifelsfall die beiden
Rancher. Auf einem Hügel inmitten ihrer 20.000-Hektar-Farm haben sie
sich ein Imperium errichtet. An den Wänden des Flurs bewahren sie
Trophäen und Familienfotos auf, antike Indianerwerkzeuge, die sie bei
Bauarbeiten gefunden haben. Von einer Rundhalle aus lässt sich die Wüste
von Sonora überblicken – vom Baboquivari, dem heiligen Berg der Tohono
O’odham, bis zur mexikanischen Grenze. Dorthin blicken die Chiltens mit
besonderer Wachsamkeit.

 

Denn der
Tucson-Sektor mit Arivaca ist eine der abgelegensten Gegenden im
US-Grenzland, das sich über 2.000 Meilen vom Pazifik bis zum Golf von
Mexiko erstreckt – daher verlaufen hier die Hauptrouten für Migranten
und Drogenkuriere. Donald Trumps
Plan, eine Mauer zu bauen und 5.000 weitere Grenzschutzbeamte zu
stationieren, ist hier nichts Neues: Nach 9/11 ließ George W. Bush
bereits Zaunabschnitte errichten und einen 100-Meilen-Streifen ins Land
hinein zur Hochsicherheitszone ausbauen. Schon jetzt fliegen und fahren 21.000 Grenzschutzbeamte die Zone nicht nur ab, sondern wohnen auch darin; ihr Jahresbudget liegt nach eigenen Angaben bei 3,8 Milliarden US-Dollar.

 

„Als die Grenzschützer in unser Dorf
kamen, war das wie ein Alptraum“, sagt Carlota Wray, die seit
Jahrzehnten in Arivaca lebt. Sie zieht die schwere Tür des Arivaca Aid
Office hinter sich zu – der kleine Raum mit vergitterten Fenstern ist
ein Zufluchtsort für Migranten, die dort Wasser und einfache
medizinische Hilfe bekommen können. Schilder fordern die Border Patrol
auf, vor der Tür zu bleiben – bisher halten sich die Beamten daran. Hier
kann Carlota ungestört reden, während die Grenzer auf der Dorfstraße
auf und ab fahren.

 

„Wenn ich höre, wie ihr
Helikopter tief über die Wüste fliegt, kann ich nicht mehr einschlafen.
Ich habe mein Pferd vor Angst durchgehen sehen und stelle mir vor, wie
die Migranten sich auf den Boden pressen, bis sie eingesperrt und
abgeschoben werden.“ Die Aufrüstung der Grenze habe ihr Leben verändert,
sagt Carlota. Wer aus Arivaca heraus will, muss sich an einem
Checkpoint ausweisen, ein Wachturm mit 360-Grad-Bewegungsmelder und
Wärmebildkamera überragt das Dorf. Ihr hispanisch aussehender Enkel kann
kaum noch zur Schule fahren, ohne vom Grenzschutz gefilzt zu werden.

Arivaca wird zur Geisterstadt: Viele
langjährige Bewohner seien nach dem Bau des Zauns weggezogen, weil die
Grenzschutzbeamten die Preise nach oben treiben; ihre Gehälter sind
doppelt so hoch wie der lokale Durchschnitt. Und, weil sie sich
beobachtet fühlen. Trumps Wahl habe die Fronten noch verhärtet, sagt
Carlota Wray.

 

Alle fürchten alle

Carlota
Wray gehört zu den wenigen Anwohnern, die sich offen gegen die
Aufrüstung der Grenze aussprechen. Ihre Freundin denkt ähnlich, doch
darauf angesprochen blickt sie sich hastig auf der Dorfstraße um, lehnt
flüsternd ab, darüber zu sprechen. Kritik an Trumps Mauerplänen ist
schlecht fürs Geschäft, für den Ruf, für die Sicherheit.

 

Carlota erinnert sich an Zeiten, in denen Mexikaner über einen Viehzaun sprangen, um auf eine Party in den USA
zu gehen – und andersherum. Diese Erinnerung hält sie davon ab, die
Angst aller vor allen, die Milliarden Dollar und Tausende Leben kostet,
für selbstverständlich zu halten: Die Angst der US-Amerikaner vor den
Mexikanern, die Furcht der Rancher vor dem Fremden unterm Fenster, das
Misstrauen der Anwohner untereinander, und die Angst der Migranten vor
allen anderen.

 

„Die Abschreckung wirkt nicht“

Während halb Arivaca
übers Wegziehen nachdenkt, feiern Jim und Sue Chilten auf der Ranch den
neuen Präsidenten. Ihnen ist die bisherige Grenzüberwachung zu lasch.
Denn ausgerechnet dort, wo ihre Ranch an Mexiko
grenzt, steht nur ein Stacheldrahtzaun. „Da können alle möglichen Leute
reinkommen.“ Einmal seien Drogenkuriere bei ihnen eingebrochen und
hätten Dutzende Waffen gestohlen, als sie nicht da waren. Dutzende
Waffen? „Ja, die stehen bei uns in jedem Raum, sicher ist sicher.“

 

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Der Grenzzaun von 2006 spaltet die
Bewohner der US-mexikanischen Grenzregion: Einige leben von ihm, andere
fühlen sich unfrei und überwacht.
© Christina Felschen

Der Zaun deckt nur 650 von 2.000
Grenzmeilen ab, in abgelegenen Gebieten können Migranten noch passieren.
Doch da liegen sieben Nachtmärsche durch die Wüste vor ihnen.
© Christina Felschen

Gail Kocourek und ihre Freunde von
den Tucson-Samaritern verteilen täglich Wasser in der Wüste von Sonora,
damit die Migranten nicht verdursten.
© Christina Felschen

Nicht allen Migranten gelingt die Durchquerung der Wüste: Von 1998 is 2016 wurden 6.591 Tote gezählt.
© Christina Felschen

An den Fundorten der Toten stellt der
Künstler Álvaro Enciso Kreuze auf (links, mit der deutschen Geografin
Antje Dionies), doch er kommt kaum hinterher: „Ich müsste wohl 180 Jahre
alt werden, um an alle zu erinnern, die schon jetzt gestorben sind.“
© Christina Felschen

Auf der Ranch von Jim und Sue Chilten gilt das Recht des Stärkeren – und das sind im Zweifelsfall sie.
© Christina Felschen

Die Rancher drohen Grenzverletzern auf Schildern mit dem Tod. Sie wollen das aber nur als „Scherz“ verstanden wissen.
© Christina Felschen

Carlota Wray empfindet die Aufrüstung ihres Grenzdorfs Arivaca schon jetzt als „Albtraum“.
© Christina Felschen

Cochise County bei Douglas ist Trump-Land: Hier stimmten 58 Prozent für den Republikaner.
© Christina Felschen

Der Tankstellenbesitzer von McNeal, Arizona signalisiert allen Vorbeifahrenden seine Liebe zu Donald Trump.
© Christina Felschen

Trump-Wähler Dennis Purdon aus Three
Points sieht sich als „mitfühlenden Konservativen“. Der 68-jährige
Ladenbesitzer gibt Migranten Wasser, Trumps Mauerplan hält er für
Geldverschwendung.
© Christina Felschen

In der Suppenküche von Heroica Nogales träumt dieser Mexikaner von Los Angeles. Die passende Basecap hat er schon.
© Christina Felschen

In der Migrantenunterkunft von Agua
Prieta versucht Betto Ramos Neuankömmlingen eine Alternative zu bieten:
Im Innenhof schreinern und malen sie für Kunden in den USA.
© Christina Felschen

Wenseslao Hernández denkt nicht gern
an seine Reise auf dem Dach des berüchtigten Zugs „La Bestia“, gemalt
hat er sie trotzdem. Angesichts der Gefahren der Wüste ist ihm der
Amerikanische Traum vergangen.
© Christina Felschen

Der berüchtigte Bestia-Zug an seiner
Endstation in Heroica Nogales; auf seinem Dach fahren Migranten aus
Zentralamerika bis an die US-Grenze, viele sterben unterwegs.
© Christina Felschen

Frei können nur Vögel über den Grenzzaun fliegen.
© Christina Felschen

 

Als George W. Bush
den ersten Grenzzaun bauen ließ, ließ er nur die einfachsten
Transitpunkte auf insgesamt 650 Meilen verbarrikadieren. Ging die
Regierung davon aus, dass niemand den lebensgefährlichen Weg durch die
Wüste von Sonora wagen würde? Oder drängte sie die Migranten bewusst in
die Wüste ab und nahm ihren Tod zur Abschreckung in Kauf, wie
Nichtregierungsorganisationen und Anwälte in Tucson sagen? Fest steht:
Von 1998 und 2016 sind laut Grenzschutz 6.951 Menschen auf ihrem Weg in
die USA gestorben, vor allem an Hitze, Kälte und Schussverletzungen. In
den zehn Jahren vor dem Bau des Grenzzauns starben im südlichen Arizona
durchschnittlich zwölf Migranten im Jahr, seither ist die Zahl auf 170
gestiegen. Auch die Chiltens finden immer wieder Tote auf ihrem Land.

 

„Gibt es ein Leben nach dem Tod? Finden Sie es raus!“

Vor
ihrer Haustür haben sie 30 Paar Camouflage-Schlappen aufgereiht –
verloren von Migranten auf ihrer Ranch. Daneben Schilder: „Gibt es ein
Leben nach dem Tod? Dringen sie auf Privatland vor und finden Sie es
raus!“ Oder: „Beim unbefugten Betreten bitte Pass mitbringen, damit wir
die Angehörigen benachrichtigen können.“ Jim Chilten biegt sich vor
Lachen: „Ist das nicht witzig!?“

 

Ich denke an die Vigilante-Milizen,
die auf eigene Faust Einwanderer Jagen, etwa die American Border Patrol
im Nachbarort Sierra Vista. An den Gerichtsmediziner von Pima County,
der die DNA von Angehörigen mit dem abgleicht, was nach Wochen oder
Jahren unter der Wüstensonne von einem Menschen übrig bleibt. Und an Kat
Rodriguez vom Colibrí Center for Human Rights, die jede Woche
Todesnachrichten an Familien in Honduras, Chiapas oder L.A. überbringen
muss. Witzig?

 

Wer wird Nummer 6.952?

Bushs
Grenzzaun, Trumps Mauerpläne, der Grenzschutz, die
Freiwilligenpatrouillen – die Amerikaner des Nordens geben sich alle
Mühe, die Amerikaner der Mitte unwillkommen zu heißen. Die eiserne
Grenze gilt aber nur in eine Richtung: Als ich sie Richtung Süden von
Nogales in Arizona nach Heroíca Nogales überschreite, ruft mir der
mexikanische Grenzer ein „¡Bienvenida!“, „Willkommen“, zu – und schon bin ich in Mexiko. Meine Papiere interessieren ihn nicht.

 

Die Schwesterstädte
könnten nicht unterschiedlicher sein: Im Norden das verschlafene
Nogales, im Süden Heroíca Nogales mit seinen 200.000 Einwohnern, deren
Hütten sich weit über die Hügel verteilen. Das Stadtzentrum schmiegt
sich an den Grenzzaun; die beliebte „Calle Internacional“ verläuft
parallel dazu. Spätestens beim Denkmal für den Teenager, der hier beim
Versuch in die USA zu klettern erschossen wurde, bekommt der Name
„Internationale Straße“ einen bitteren Nachgeschmack. Und doch: Hier
flaniert die Jugend der Stadt und träumt von einer besseren Zukunft – im
Land der Schotterpiste auf der anderen Seite, wo die Grenzer Staub
aufwirbeln und sonst nichts passiert.

 

„Die Abschreckung
wirkt nicht“, sagt Sean Carrol. Der Jesuitenpater steht vor der
Suppenküche der Kino Border Initiative, die seit 2009 gestrandeten
Migranten hilft, mehr als  8.000 im letzten Jahr. „Nicht solange die
Landarbeiter Zentralamerikas ihre Familien nicht ernähren können und
Banden Jugendliche mit Gewalt rekrutieren. Die meisten Abgeschobenen
treten ihre Reise noch einmal an, unter erschwerten Bedingungen, mit
weniger Geld.“ Der Pater öffnet die Gittertür. „Wir kontrollieren jeden
Besucher, damit die Migranten zumindest hier vor Kartellmitgliedern und
Schmugglern geschützt sind.“ Drinnen sitzen etwa 50 Männer und Frauen;
es ist leicht zu sehen, wer die Reise durch die Wüste zum ersten Mal vor
sich hat und wer hierhin abgeschoben wurde, oft nach Jahren in den USA:
Einige sind aufgedreht und nervös, andere starren reglos vor sich hin.

 

Keine Mauer kann sie abhalten

„Seit der Amtseinführung
von Trump bekommen wir viel mehr Deportierte“, beobachtet Carrol.
„Inzwischen setzt die Polizei- und Zollbehörde (ICE) jeden Tag ein
Dutzend Migranten in Heroica Nogales aus – so viele wie unter Obama jede
Woche.“ Trump hatte seinen Wählern versprochen, zwei bis drei Millionen
„kriminelle Illegale“ abzuschieben. Dazu zählt er auch solche, die mit
einem Verstoß im Straßenverkehr auffallen oder die mit einer falschen
Sozialversicherungsnummer arbeiten.

 

Der Himmel über den
beiden Nogales färbt sich violett, Sean Carrol und seine freiwilligen
Helfer verabschieden sich hastig in Richtung der USA; die Nacht gehört
den Banden. Zurück bleibt nur ein junger Mann, er hält einen Rosenkranz
umklammert und presst sich mit seinem Kinderrucksack gegen einen Zaun.
Severin wartet auf die Schmuggler, die ihn mitnehmen wollen, doch es
sieht aus, als wolle er lieber unsichtbar werden. Sein letzter Versuch,
die Grenze zu überqueren, endete mit drei Jahren Gefängnis und einer
Abschiebung: „Ich war vollkommen blank, doch die Schmuggler boten mir
einen Deal an: Sie würden mich mitnehmen und den Wegzoll an die Kartelle
bezahlen, wenn ich einen Rucksack mit 45 Kilo Marihuana mitnehme.“ Nach
sieben Tagen, kurz vor Tucson, nahm ihn der US-Grenzschutz fest.

 

Aber keine Mauer der
Welt könnte Severin davon abhalten, es noch einmal zu versuchen. „Ich
habe meine Mutter seit fünf Jahren nicht mehr umarmt.“ Der 23-Jährige
verbrachte seine Kindheit und Jugend in Südkalifornien, nachdem seine
Eltern ihn über die Wüstenroute aus Guerrero nachgeholt hatten – zwölf
Jahre mit American Football, Schule, Freunden und Partys. Als
Achtzehnjähriger geriet er in eine Polizeikontrolle und wurde
abgeschoben, alleine, ohne Geld. Dieses Mal will er alles richtig
machen, ohne Marihuana im Rucksack, ohne Partys in L.A. „Ich will nur
nach Hause.“ Dafür wird er erneut sein Leben aufs Spiel setzen.

 

Geier kreisen

Wenn
Severin Glück hat, wird er in der Wüste Wasser finden – die
Menschenrechtsorganisationen No More Deaths und Tucson Samaritans
platzieren seit der Errichtung des Grenzzauns täglich Kanister an
wichtigen Migrationsrouten. „Rund um unsere Wasserstellen werden weniger
Tote gefunden“, sagt Gail Kocourek, die den Kombi der Samariter in die
Wüste steuert. „Dagegen sterben auf Privatland und im Reservat der
Tohono O’odham, wo kein Wasser verteilt wird, unverhältnismäßig viele
Menschen.“

 

Was denen passiert,
die kein Wasser finden, erlebte sie bei einer Fahrt im vergangenen Jahr.
Neben der Straße kreiste ein Geier. Gail bremste und sah einen jungen
Mann im Straßengraben, Alex aus Honduras. Er zitterte und übergab sich –
Gail und ihre Begleiterin waren seine letzte Rettung. Wochen später
rief Alex aus dem Norden der USA an: Er war nicht Nummer 6.952 auf der
Todesliste geworden, sondern einer von elf Millionen Menschen, die ohne
Papiere in den USA leben und Geld an ihre Familien im Heimatland
schicken.

 

Eines aber unterscheidet viele Trump-Wähler an der Grenze von denen im
Inland: Wenn Donald Trump über die „bad hombres“ aus Mexiko schimpft, die
Horden der Vergewaltiger und Kriminellen, die angeblich über die Grenze kommen, schämen
sie sich für ihren Kandidaten. Sie sehen, wie Indigene auf Indianerland
sterben; wie Mexikaner aus der Region deportiert werden, die bis 1848 zu Mexiko
gehörte; und wie Grenzbeamte die Migranten, die ihnen entkommen, wenige Wochen
später für günstige Gartenarbeiten anheuern. Und sie versuchen zu helfen.

 

Wenn Jim Chilten Fremde auf seinem
Grundstück sieht, schnappt er sich sein Gewehr – und einen Wasserkanister. Dann
nimmt er allen Mut zusammen und ruft: „Agua?!

 

via www.zeit.de