Reportage | Katrin Groth

Mit Rückgrat und Zuckerwatte

In diesem Jahr wird in Deutschland gewählt: Europaparlament, Landtage, Bürgermeisterposten. Die AfD hat vielerorts gute Chancen, stärkste Partei zu werden. Wie gehen die Kirchen mit dem Aufstieg der Rechtspopulisten um?

Einmal, erzählt Christian Mende, habe er am Kirchturm gehangen. Ein Banner, drei mal acht Meter gross, hatte sich im Sturm gelockert. «Zu Frieden seid ihr berufen», stand da; der Ukrainekrieg hatte gerade begonnen. Mende schnappte sich Seil und Klettergurt, stieg auf den Turm und seilte sich ab. Aus 25 Metern, im Dunkeln, allein. Dann hörte er die Sprechchöre, sah die Fackeln, die Fahnen. Mende erstarrte. Das Ende seines Seils baumelte über dem Boden.

Und unter ihm zog die Greizer Montagsdemo vorbei, wo stadtbekannte Nazis mitlaufen.

Wenn die das Seil anfackeln, ich komm nicht mehr weg, dachte er. Mende knipste die Stirnlampe aus, krallte sich an die Kirchturmbrüstung. Nur keinen Mucks. So erzählt er es heute, an einem Nachmittag Anfang Dezember. «Eigentlich hätte ich das Banner beleuchten und schreien müssen», sagt er. Er lächelt wie jemand, der weiss, dass sonst was hätte passieren können.

Im Greizer Kirchgemeindehaus, gegenüber der Stadtkirche St. Marien, sitzt Mende neben Regalen mit Knete und Krepppapier. Er wischt auf dem Handy herum, bis er gefunden hat, was er sucht, sein WhatsApp-Profilbild: Bart Simpson. «Mit Nazis geht man nicht spazieren», schreibt der an die Tafel. Mehrere Konfirmanden-Eltern, die selber bei den Demos mitlaufen oder zumindest Sympathien dafür haben, hätten ihn deswegen kritisiert.

Mende trägt Jeans und Kapuzenpulli. Er ist 41, Gemeindepädagoge mit Zusatzausbildung Erlebnispädagogik, Schwerpunkt Klettern, Höhlen, Wildwasser. Im Flur vor seinem Büro lagern Seile und Karabiner, an der Wand: Bilder vom Demokratiebus. Drei Jahre fuhr der Linienbus durch den Landkreis, beklebt mit Statements zu Respekt und Toleranz, #vielfalt stand über der Tür. 2019 erhielt der Bus den Demokratiepreis des deutschen Bundeslandes Thüringen. Mende hatte die Idee gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern umgesetzt. In Greiz leitet er die junge Gemeinde.

Greiz liegt im Osten Thüringens, 20’000 Menschen leben hier. Es gibt zwei Schlösser, die Altstadt ist eng und kopfsteingepflastert, im Stadtrat dominiert die Christlich Demokratische Union (CDU). Für junge Leute gibt es wenig, ein Kino, einen Sportplatz, drumherum Dörfer, Wald.

Ende Dezember war auf X, ehemals Twitter, zu lesen, dass ein rechter Mob mit Fackeln durch Greiz gezogen war und Anwohnerinnen bedroht hatte. Vor einem Haus riefen sie, «Komm runter, du Feigling » und «Spring, wir halten dich nicht auf». Ein Aktivist übertrug den Umzug via Livestream.

Vor der letzten Gemeindekirchenratswahl habe eine Umfrage ergeben, dass 50 Prozent der Kirchgemeindemitglieder AfD-affin seien, sagt Mende. …

 

via brefmagazin.ch