Fair vs. Fies
22. Dezember 2020

Hölle, was für ein Jahr!

Eigentlich wollten wir an einem November-Wochenende mit euch feiern und tanzen. In einem wunderschönen, grün dekorierten Raum in Hamburg. Wir wollten Reden halten, uns auf Podien fetzen, alte Bekannte und Freundinnen so richtig feste in die Arme nehmen, Sekt und grüne Cocktails mit euch trinken, mit schweren Beinen, einem Kopf voller Ideen und viel, viel Wumms nach Hause wanken.

Eigentlich wollten wir Preise verleihen! Den Himmelpreis für vorbildlich faires und den Höllepreis für ekliges Verhalten. Unsere schönen Skulpturen aus Porzellanpapier, die immer im Atomkoffer unendlich vorsichtig durch Deutschland transportiert werden müssen. Sonst gibt es Scherben ohne Glück.

Erst haben wir uns überlegt, ob wir eine andere Präsenz-Veranstaltung planen wollen. Irgendwo draußen mit grünen Masken im Gesicht. Aber dafür die Freischreiber zweimal durch die Republik schicken? Nein. Irgendein neues Digitalformat ausprobieren? Eine Preisverleihung ohne Publikum, ohne Reden, ohne Applaus? Nee. Das wollen wir nicht. Wir brauchen die Veranstaltung, wir brauchen euch alle an einem Ort. Wir brauchen die Freischreiberinnen und die Freischreiber. Es ist großartig, euch in den digitalen Mittagspausen und in den Webinaren zu sehen, Freie in ganz Deutschland und auf der ganzen Welt. Aber eine Preisverleihung? Digital? Das ist wie doppelt aufgegossener Tee, dünner Kaffee, Reden durch Filter. Wir brauchen die Preisverleihung in ECHT.

Das Besser-als-Nichts-Jahr
Ihr ahnt es schon: Es ist – wie alles – anders in diesem Jahr. Als wir euch um eure Vorschläge gebeten haben, dachten wir noch, das könnte klappen mit einer Preisverleihung im Herbst. Der Optimismus stirbt beim Freischreiber bekanntermaßen zuletzt. Nun fragt ihr euch: „Was ist aus meinem Vorschlag geworden?“ Keine Sorge. Er war nicht umsonst.
Wir haben uns eure Vorschläge genau angesehen. Wir haben sie daraufhin überprüft, ob sie einen Corona-Bezug haben, denn das war in diesem Jahr das Thema. Wir haben keinen Vorschlag vergessen. Wir haben nachgefragt und Beweise gesucht. Immer wieder nachgefragt und immer wieder gemerkt: Wenn es darum geht, dass noch jemand die Hand hebt und einen Vorwurf bekräftigt, dann kam ganz, ganz wenig.

Wir können eine Hölle-Nominierung nicht auf einer einzigen Beschwerde aufbauen. Wir brauchen zweite und dritte Quellen, Beweise, Veröffentlichungen. Wir haben unseren Quellen zugesichert, dass niemand ihren Namen erfährt. Aber wieder kam da nichts bis wenig. Keine freien Kolleg*innen, die gesagt hätten, bei mir war das auch so.
Wir kennen das Problem. Uns ist schon so mancher Höllekandidat von der Schaufel gesprungen, weil die Vorwürfe stark und die Beweise mau waren. Das ist jedes Mal schade und frustrierend – für uns und für euch. In diesem Jahr stehen viele Freie in einem ganz anderen Maß als sonst mit dem Rücken zur Wand. Viele Kolleginnen und Kollegen haben Auftraggeber und sehr viele Aufträge verloren. Weniger Präsenztermine, weniger Seminare, weniger Geld auf dem Konto. Dafür mehr Druck.

Zum Teufel mit ihnen?
Viele halten gerade jetzt zu Auftraggebern, die sie eigentlich zum Teufel schicken sollten. Es ist nicht an uns, das zu verurteilen. Wir verstehen, dass viele ihren Bestand mit allen Mitteln sichern müssen. Auch wenn es den Höllepreis kostet.
Einige hoffnungsvolle Höllekandidaten haben sich im Laufe dieses Höllejahrs wohl auch gebessert. Auch das gibt es. Vielleicht nicht vom Saulus zum Paulus, aber dennoch aus der Hölle Richtung Fegefeuer. Einige Redaktionen und Auftraggeber hatten sich am Anfang der Corona-Krise von ihrer miesesten, höllischen Seite gezeigt. Da wurden Aufträge eingefroren, Honorare gedeckelt, Tagessätze unterboten, Freie abgewickelt, die nicht einmal gesagt bekamen, was da läuft. Als wir später noch ein paar Mal nachfragten, um Höllekandidat*innen nominierungsfein zu machen, hieß es: Die Lage hat sich entspannt, es läuft wieder. Das freut uns natürlich für jeden Auftrag und für jede Zusammenarbeit, die euch über Wasser hält. Aber das bedeutet für dieses bizarre Jahr:

2020, in diesem durchweg höllischen Jahr, wird es keinen Höllepreis geben!

Ein Blick in den Himmel
Wir hatten euch um Einreichungen gebeten zu Redaktionen und Redakteur*innen, die im Laufe der Krise zu euch gestanden haben, die euch unterstützt haben, die gezeigt haben, dass der Freie nicht der Sandsack ist, der schnell mal abgeworfen werden kann, wenn es eng wird. Wir kommen durch dieses Jahr nur, wenn wir zusammenhalten. Freie und Freie. Freie und Feste. Das klingt nach Himmel? Das sollte nach Normalität klingen.

Wir haben Himmelpreis-Einreichungen bekommen, da ging es um Dinge, die so selbstverständlich sind, dass wir wirklich manchmal Angst bekommen; wenn das schon himmelpreiswürdig ist. Redaktionen, die pünktlich bezahlen wurden genannt, Redaktionen, die freundlich sind, Redaktionen, die auf Mails antworten oder ans Telefon gehen. Herrjeh. Wir freuen uns um jeden guten und unkomplizierten Umgang. Aber ist das schon der Himmel?

Zwei Einreichungen fanden wir dann doch himmlisch herausragend. Deshalb gibt es in diesem verrückten Jahr zwei Himmelpreise.

Dem Himmel so nah
Ein Himmelpreis geht an eine Zeitung, die sich von jeher der Solidarität und der Loyalität verschrieben hat. Schon oft haben wir Gutes gehört, schon oft mussten wir sagen, Himmel geht trotzdem nicht, weil das Honorar, mit dem Freie abgespeist werden, unterhalb jeder Grenze liegt. Oder wie es ein Kollege in unserem Honorartool auf den Punkt brachte: Nette Betreuung, mieses Honorar.

Ihr wisst, um wen es geht? Klar. Es geht um die taz. Denn die taz hat in diesem Jahr etwas gemacht, was in Krisenzeiten unschätzbar wertvoll ist: Sie hat an ihre freien Korrespondent*innen und an einige regelmäßige Autor*innen einen dicken fetten Bonus ausgezahlt. Ein dreizehntes Monatshonorar. Nicht zu Weihnachten, sondern zur Krise. Weil die Unsicherheit groß und die Motivation nötig war.

Die ersten Fragen im „Pandemie-Stab“ des Hauses hätten gelautet: „Wie geht es wem? Wie unterstützen wir unsere Freien?“, sagt Geschäftsführer und Vorstandsmitglied Andreas Marggraf. Die Redaktion schrieb daraufhin an ihre Freien: „Niemand weiß, wie lange die Corona-Krise noch andauern wird. Fest steht nur, dass sie noch lange nicht überstanden ist. Fest steht allerdings auch, dass es die taz in und nach der Krise weiter braucht. Und das heißt auch: Die taz braucht Euch! Vielen Dank für Eure tolle Arbeit in der Vergangenheit, in der Gegenwart – und in der Zukunft!“

Wow. So etwas wollen wir öfter lesen. Und dann auch noch eine Extra-Zahlung. Wenn die Honorare nicht so mau wären, müssten wir alle jetzt zusammenpacken und auf geht’s zur taz. Aber da gibt es noch ein Problem: Etwa 40 Euro für 1.000 Zeichen? taz, ihr seid so gut. Da gibt es – eigentlich – noch etwas Luft bis zum Himmel. Aber ihr bekommt für diesen Schritt dennoch den Himmelpreis der Freischreiber. Herzlichen Glückwunsch!

Himmel!
Den anderen Himmelpreis bekommt in diesem Jahr mal wieder ein Einzelner. Manchmal ist es so; da funkeln die Solitäre mehr als das Ganze. Besonders ist uns das Funkeln in diesem Jahr bei einem Redakteur der Welt aufgefallen. Klaus Geiger wurde gleich mehrfach in den Himmel gelobt. Der Chef der Politik Ausland „antwortet schnell und ausführlich“ (sollte normal sein), „zahlt immer pünktlich“ (sollte auch normal sein), „bietet regelmäßig Feedbackgespräche an und nimmt sich dafür eine Stunde Zeit“ (Holla), „dankt seinen Freien regelmäßig“ (ok), „zahlt extra Geld für minimale Mehrarbeit“ (Potzblitz).

Da mussten wir doch mal nachfragen. Klaus Geiger meint selbst, dass das, was vielen so auffällt, doch eigentlich normal sein sollte. „Vertrauen und Fairness“ müssten stets die Prinzipien sein. Sein ganzes Team handle nach ihnen. „Wir haben schon immer nach Aufwand honoriert.“ Mit und ohne Krise. Zudem sei es für seine Redaktion und ihn wichtig, „im Gespräch zu bleiben über die aktuelle persönliche Lage jedes Mitarbeiters und die Frage, was gerade leistbar ist. Das war in der Corona-Situation noch zentraler“. Das denken wir auch.
Deshalb haben wir mal ausprobiert, ob das auch wirklich so stimmt mit dem tollen Umgang. Es stimmt. Der Auftrag kam prompt, fair, klar. Himmlisch. Gerade in einer Zeit, in der sich viele um ihre Verantwortung drücken und Freie weit von sich schieben, brauchen wir solche Solitäre. Deshalb verleihen wir Klaus Geiger den Himmelpreis 2020. Herzlichen Glückwunsch!

Klaus Geiger von der Welt und Andreas Marggraf aus dem Vorstand der taz: Im Sommer erscheint unser neuestes Werk, die Freienbibel 2. Sie wissen schon so viel über die Freien, sonst hätten Sie den Himmelpreis nicht bekommen. Wenn im Sommer das Buch erscheint, wartet auf Sie die schönste, edelste und persönlichste Ausgabe unserer Freiebibel. Mit gedruckter Widmung, mit Gedicht, gebunden in Leinen. Sobald sie gedruckt ist, treffen wir uns zu einer Veranstaltung im Freien. Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir unsere Preise nicht auch noch in echt verleihen könnten.

Und jetzt: Zur Hölle mit dem ganzen Jahr 2020 – und in den Himmel mit unseren Himmelpreisträgern, die uns zeigen, dass es im Höllenjahr auch noch etwas Positives geben kann.

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Freischreiber-Himmel-Preis 2020 from Freischreiber on Vimeo

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