vom 04T11:54:16+00:00.06.2019

4. Juni 2019

Von digitalen Hintertüren, schweren Tankern und Königskindern
 
 

Liebe Freischreiber, liebe Kolleginnen und liebe Freunde von Freischreiber,
 
in dieser an Aufregern nicht gerade armen Zeit kommt aus dem Hause Seehofer ein blumig klingender Referenten-Entwurf. Er heißt „Gesetz zur Harmonisierung des Verfassungsschutzrechts“. Dank eines Leaks von netzpolitik.org ist der Entwurf seit März öffentlich. Seine Tragweite für Journalistinnen wurde aber erst so richtig klar, seit Reporter ohne Grenzen (ROG) ihn näher begutachtet hat. „Es ist ein verblüffender Plan“, schreibt der SZ-Redakteur Ronen Steinke in seinem Kommentar, „der sich im Paragrafenwust eines sehr langen und sehr viele Themen durcheinanderrührenden Gesetzentwurfs versteckt … Die wachsamen Leute der Organisation Reporter ohne Grenzen haben ihn gerade mit viel Mühe herauspräpariert. Seitens des Ministeriums gehört einige Unverfrorenheit dazu, einen solchen Plan einfach in Gesetzes-Kleinklein einzuwickeln. Es gehört auch einige Ruchlosigkeit dazu, sich jetzt, da man ertappt worden ist, darauf hinauszureden, das sei ja gar nicht ,intendiert‘ gewesen.“ Denn jetzt ist Feuer unterm Dach. Das Bundesinnenministerium versucht seit einigen Tagen, per Twitter zurückzurudern.
 

 
Was steht in diesem Papier? Die Möglichkeiten der Geheimdienste, digital gegen Terrorismus vorzugehen, sollen ausgeweitet werden. Der Entwurf lässt aber auch ein relativ müheloses digitales Aushorchen von Redaktionen und freien Journalisten zu, wie es im analogen Leben niemals durchgehen würde. Da können Redaktions-Server und Smartphones von Kolleginnen gehackt, Rechercheunterlagen durchforstet, Informanten ermittelt werden. Ohne dass auch nur eine Richterin zustimmen muss. Den Beschluss zum Ausspionieren darf der Verfassungsschutz selbst fällen. Und nur eine im Geheimen tagende Kommission kontrolliert noch diese Entscheidung. Wir erinnern an dieser Stelle nur ungern an den ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen, der sich nicht etwa über den Inhalt des Strache-Videos empört hat, sondern darüber, dass es an die Öffentlichkeit kam.
 
Wir haben Gemma Pörzgen, ROG-Vorstandsmitglied und Freischreiberin der ersten Stunde, um ein Statement gebeten: „Die Pläne des Innenministeriums“, sagt sie, „sind ein inakzeptabler Angriff auf unsere Rechte als Journalistinnen und Journalisten. Die Gesetzesnovelle mag eigentlich zum Ziel haben, Terrorismus zu bekämpfen – aber deshalb auch das Redaktionsgeheimnis digital aushebeln zu wollen, geht eindeutig zu weit. Gegen diese Pläne ist deshalb klarer Widerstand angesagt, und da sollten wir als Branche auch mit einer Stimme sprechen, um der Bundesregierung deutlich zu machen: Freie Medien gibt es nur mit Informantenschutz, egal ob offline oder online.“
 
Im Folgenden finden Sie zahlreiche Artikel zu diesem Angriff auf die freie Presse, unter anderem bei der taz, der FAZ (da eine ausführliche Stellungnahme des ROG-Geschäftsführers Christian Mihr), der SZ, im Altpapier von 360G Medien (MDR) oder in der Welt.
 
Im Newsletter vor zwei Wochen fragten wir nach dem Abschlussbericht der Relotius-Untersuchungskommission. Wir können nicht meckern, er wurde unverzüglich geliefert. Hier ist er, 17 Seiten lang. Die Kommission hat niemanden geschont und fatale Strukturen innerhalb des Gesellschafts-Ressorts ausgemacht, das Claas Relotius beschäftigte. Dass es sich dabei allerdings nicht um einen „Fall Relotius“ handele, sondern eher um einen „Fall Spiegel“, ist die Ansicht zweier ehemaliger langjähriger „Spiegel“-Mitarbeiter in diesem Bericht in der taz.
 
Apropos Strukturen, am 25. Mai fand die Mitgliederversammlung der VG Wort statt. Was dabei herausgekommen ist, schildern die Freischreiber-Vorstandsmitglieder Frank Keil und Jens Eber wie folgt: „Ende Juni soll es die doppelte Ausschüttung geben. Also die normale Ausschüttung für 2018 plus die Ausschüttung der Verlegeranteile, die nach aktuellem Stand (Vogel-Urteil / BGH-Entscheidung von 2016) den Autor*innen zustehen und schon für letzten Dezember zugesagt waren. Es gibt daher zweifach Geld – und ausgeschüttet werden gut 300 Millionen Euro. Ansonsten? Hier und da sind die Bemühungen des VG-Wort-Vorstands erkennbar, sich etwa bei der Vorstellung des Jahresberichts und der Bilanzen nicht nur hinter rein juristischen Verlautbarungen zurückzuziehen, sondern gelegentlich verständlich zu erklären, auch wenn da entschieden noch Luft nach oben ist. Zugleich gibt es sie immer noch, die VG-Wort-Mitglieder, die einen allergischen Schock bekommen, wenn Martin Vogel als VG-Wort-Kritiker auch nur ans Mikrofon tritt, und die entsprechend an keiner inhaltlichen Auseinandersetzung interessiert sind, weil sie sie nicht wollen.

Quer durch die Journalistenverbände gab es dagegen viel Unmut wegen des METIS-Systems: Als zu kompliziert, zu wenig praktikabel und vor allem als zu undurchsichtig wird es von vielen Mitgliedern empfunden. Der Vorstand musste entsprechend zwei Anträge hinnehmen: Zum einen ist er verpflichtet worden, für eine einfachere Handhabung zu sorgen. Zum anderen soll das starre Korsett von einer Mindestgröße von 1.800 Zeichen pro Beitrag bei mindestens 1.500 Zugriffen aufgegeben und eher eine pauschale Vergütung etabliert werden. Zudem soll eine eigene Kategorie ,Wissenschaft‘ für METIS eingerichtet werden. Mal schauen, wie der Vorstand dem nun nachkommt – wir prüfen das spätestens im Mai 2020 bei der nächsten Mitgliederversammlung.

Weiterhin: Unser Kollege Oliver Eberhardt kandidierte für den wichtigen Verwaltungsrat. Auch wenn er als bekennender Freischreiber deutlich mehr Stimmen bekam, als Freischreiber*innen vor Ort waren, reichte es zu unserem Bedauern nicht für einen Platz. Auffällig: Die beiden Kandidatinnen erhielten erheblich mehr Stimmen als die Kandidaten. Der oft zu hörende Appell, dass die VG Wort ,weiblicher‘ werden muss, fand immerhin so seinen Widerhall. Interessant ist auch, dass sich bei der Kandidat*innen-Vorstellung alle zum bisherigen Modell der freiwilligen Zustimmung der Autor*innen bekannten, bei dem die Autor*innen selbst darüber entscheiden, ob sie die Verlage an ihren Ausschüttungen beteiligen wollen. Ob das dann noch der Fall sein wird, wenn die EU-Urheberrechtsreform in deutsches Recht überführt wird, steht auf einem anderen Blatt. Fazit: Es tut sich was. Die VG Wort ist noch immer ein schwerfälliger Koloss, den man zuweilen zum verständlichen Erklären tragen muss. Wir bleiben entsprechend dran.“ Wer hier als Wahrnehmungsberechtige(r) mitliest, sollte genau jetzt eine Mail an die VG Wort schicken und einen Antrag auf Mitgliedschaft stellen. Nur als Mitglied können Sie an der Mitgliederversammlung teilnehmen und sind dort stimmberechtigt. Die Versammlung der Wahrnehmungsberechtigten und die Versammlung der Mitglieder sind zwei verschiedene Dinge. Kümmern Sie sich – es geht um ihre Rechte und um ihr Geld. Infos hier. 

Auch bei einem anderen schwerfälligen Tanker, der uns in den vergangenen Jahren stets an seiner Stahlwand abprallen ließ, heißt es ab sofort: Und er bewegt sich doch. Es geht um die Süddeutsche Zeitung, zweifacher Freischreiber-Höllepreis-Träger und bislang zuverlässig ohne Funkkontakt zu uns. Noch nicht mal den Preis wollte man bei der ersten Verleihung entgegennehmen. Nun aber flog von oben ein Seil über die Reling, Freischreiber-Reporter Frank Keil hat es ergriffen:
 
„Er ist angekommen! Unser Hölle-Preis, den wir im vergangenen Herbst an die Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung verliehen haben! Irgendwo steht er jetzt im Redaktionshochhaus in München-Zamdorf. Auch 2017 ging der Hölle-Preis an die SZ. Damals mussten wir unsere Preis-Skulptur bei den Pförtnern hinterlassen; diesmal aber konnten wir ein Gespräch mit der Leitung des Hauses führen: mit Julia Bönisch, der Chefredakteurin von sueddeutsche.de. Es wurde ein freundliches und offenes Gespräch – weshalb wir über den genauen Inhalt Stillschweigen vereinbart haben.
Nur so viel: Freischreiber und die Süddeutsche Zeitung haben einen Austausch begonnen und schauen nun beide, was getan werden kann, um die Situation von freien Journalist*innen im Hause zu verbessern. So ist unser Hölle-Preis ja immer auch gemeint: als Angebot, sich zusammenzusetzen, jenseits aller Differenzen und unterschiedlichen Interessen. Man kann aus der Hölle aufsteigen. Sogar in den Himmel. Nicht nur theoretisch.“
 
Oha, datt is nu bannig lang gewor’n, wie man in Hamburg, dem Freischreiber-Stammsitz, sagen würde. Daher folgt nun schnell: 
 
Freischreiberiges
 
Freischreiber Stefan Mey führt durchs Darknet, das nicht nur ein Hort für kriminelle Machenschaften ist, sondern auch ein Schutzraum für Journalistinnen sein kann: Am 17. Juni hält der Technikexperte im Wiener Presseclub Concordia um 18 Uhr seinen Vortrag „Darknet und Journalismus: Mythen, Fakten und Chancen“. Stefan Mey können Sie am 26. Juni auch in Mainz hören: im Erbacher Hof um 19 Uhr, veranstaltet vom Presseclub Mainz. Wer tiefer ins Thema einsteigen will: Am Wiener Forum Journalismus und Medien (fjum) gibt Stefan am 18. Juni einen Workshop zu „Darknet-Recherche für JournalistInnen“, von 9.30–17 Uhr. Mehr dazu hier.

 


Mitmachen und Ärmel hochkrempeln: Jetzt :Freischreiberin (oder :Fördermitglied) werden!


 


Ein anderer Technikspezialist öffnet wieder seinen Werkzeugkoffer und präsentiert digitale Tools für Journalisten: „Digitaler Werkzeugkasten für freie Journalist*innen“ von Freischreiber Henry Steinhau an der Akademie der bayrischen Presse am 26. Juni. Da geht es um probate Hilfen zur Zeiterfassung, Transkriptions-Software und wie man seine Rechercheunterlagen am besten schützt und organisiert. Henry verspricht seinen Teilnehmerinnen: „Nach dem Seminar haben Sie ein eigenes digitales Werkzeug-Set zur Hand, kennen taugliche Programme und Apps und können gute von weniger guten Tools unterscheiden.“
 
Was verdienen freie Journalisten? Am 14. Juni ist es so weit: Freischreiber stellt seinen ersten Honorar-Report zum Tool wasjournalistenverdienen.de auf der Netzwerk-Recherche-Tagung vor. Das Panel beginnt um 14.15 und stellt sich den Fragen: „So wenig? So viel?“

Freischreiber Peter Jamin ist am Mittwoch, 5. Juni 2019, 23.15 Uhr, Gast im ZDF-Talk „Markus Lanz“. In dem Gespräch geht es um sein Buch: „Ohne jede Spur – wahre Geschichten von vermissten Menschen“. Jamin arbeitet seit 1992 zu Vermisstenfällen und unterhält ehrenamtlich eine Vermissten-Hotline. Hier geht’s zum Buch (Rowohlt-Verlag).
 
 
Dit un dat
 
Soooooo sehr verdient: Der freie Journalist Juan Moreno, der seinen Ruf und seine berufliche Zukunft riskiert hat, um die Fälschungen von Claas Relotius aufzudecken, erhält den Leuchtturm-Preis von Netzwerk Recherche (NR) für besondere publizistische Leistungen. „Juan Moreno hat seinen journalistischen Kompass und seine Unabhängigkeit beispielhaft bewiesen. Er hat hartnäckig und mutig gegen Widerstände im eigenen Haus recherchiert und dabei viel riskiert – um schließlich zu enthüllen, was lange niemand wahrhaben wollte“, so Julia Stein, Vorsitzende von Netzwerk Recherche auf der Website von NR. Die Preisverleihung findet am 14. Juni um 16.45 Uhr auf der NR-Tagung statt, die dieses Jahr sinnigerweise unter dem Motto läuft: „Abenteuer Recherche“.

Reporter ohne Grenzen (ROG) freut sich über den renommierten Gutenberg-Preis, den die Organisation von der Stadt Leipzig erhalten hat. Geehrt wird die Kampagne „Fonts for Freedom“, die ROG zusammen mit der Hamburger Agentur Serviceplan umgesetzt hat. Ziel der Kampagne ist es, die Schriftarten geschlossener Medien am Leben zu erhalten. Dafür wurden diese nachgebaut, nach den entsprechenden Medien benannt und können nun weiter genutzt werden.
 
Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung schreibt für erfahrene Kolleginnen ein Recherchestipendium ab Herbst 2019 aus: Die Journalist in Residence-Fellowship ermöglicht den Stipendiaten für eine Dauer von sechs Wochen bis drei Monaten eigene Recherchen, einen Arbeitsplatz und ein monatliches Stipendium in Höhe von 3500 Euro. Bewerbungsschluss ist der 30. Juni 2019. Weitere Infos hier.
 
Das Schweizer Magazin „Reportagen“ hat ein eigenes Festival: Vom 30. August bis zum 1. September treffen sich an „3 Tagen im Sommer“ 60 Reporterinnen und Reporter zu 50 Veranstaltungen. Im Herzen von Bern. Die Tickets sind kostenfrei und online erhältlich.

Das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden ist für Medienschaffende eine Kernkompetenz. Der US-Sender ABC News hat sich darin besonders hervorgetan. „ABC News spent more time on royal baby in one week than on climate crisis in one year“, heißt es auf dem Blog von Media Matters. Archie, der neue Spross der britischen Königsfamilie sei „nur der siebte in der Thronfolge, aber Nummer eins in den Schlagzeilen“.

Das war’s wieder von uns. Lassen Sie sich nicht aushorchen, genießen Sie den frühen Sommer und bleiben Sie uns gewogen.

Ihre Freischreiberinnen